Dokumente und Performate

von Kusanowsky

Bei wavetank.de hat J. Martin die Frage aufgeworfen, welche Konsequenzen der Ausbau einer Cyberwelt auf die Überlebenschancen kultureller Artefakte hat. Gemeint sind damit die Chancen und Risiken der Tradierbarkeit von Kulturgütern, die durch digitale Produktions- und Reproduktionsverfahren gänzlich andere Verhältnisse schaffen; Verhältnisse, durch die manch eingefahrene Gewohnheiten anders beurteilt werden müssten. Das bezieht sich auf soziale Unterscheidungsroutinen wie die Privatheit und Öffentlichkeit, Freiheit und Sicherheit, aber auch auf Privateigentum und Allgemeingut.
Interessant an diesen Überlegungen ist nicht die Frage, ob J. Martin Recht hat mit seinen Überlegungen, da es sich um Spekulationen handelt, und welche eben aus diesem Grunde höchst bemerkenswert sind. Vielmehr scheint mir der Aspekt interessant, dass sich unter Berücksichtigung einer zunehmenden Virtualisierung sozialer Strukturbildung neue Beobachtungsschemta heraus bilden, die auf eine gänzliche veränderte Ausgangslage angepasst sind.
Wie auch immer die dann aussehen mögen, so kann man aber schon vorzeitig feststellen, worauf unsere gegenwärtigen Beobachtungsschema noch angepasst ist und welcher Blinde Fleck sich zeigt, wenn man versäumt, das eigene Beobachtungsschema einer Selbstprüfung zu unterziehen.

Es wird bei J. Martin nach dem Verbleib unserer kulturrellen Artefakte gefragt, ohne zu bemerken, dass das, was sich im Laufe der Herausbildung einer funktional-differenzierten Gesellschaft als Artefakt bemerkbar machte, in den Bedingungszusammenhang eben dieser Gesellschaftsevolution eingebettet war. Die Evolution der modernen Gesellschaft hat sich durch Formen beschrieben, deren Beschreibbarkeit durch diese Formen selbst gebildet wurden. Das betrifft gewiss den Buchdruck, aber auch die Zentralperspektive, sei sie zunächst als gezeichnete Struktur, später mittels eines fotochemischen Verfahrens abbildbar geworden.
Die Zentralperspektive stellte den Betrachter genau an den Punkt, von dem aus alle dasselbe Bild sahen. Daran angeschlossen hatte sich die Herausbildung von Massenmedien, die als spezifisches Dispositiv die Rezeption und Reproduktion von „Dokumenten“ herstellten. Die Leistung bestand darin, „Dokumente“ unabhängig vom Zugriff durch Personen archivieren, reproduzieren und distribuieren zu können. Die Massenmedien versammelten ein Publikum chorologisch um ein- und dasselbe Dokument.
In diesem Zusammenhang stellte sich schließlich die Frage nach dem Verbleib des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, deren Beobachtungsschema den Verschiebeprozess von Monumenten, wie sie in stratifizierten Gesellschaften hergestellt wurden, zu Dokumenten beschrieb. Ein solcher Verschiebeprozess wird durch die Digitialisierung und einer sich darum herum entwickelnden Gesellschaft wieder beobachtbar werden.

Solange allerdings angenommen werden kann, dass sich die Frage nach dem Verbleib kultureller Artefakte durch das Beobachtungsschema „dokumentiert/nicht-dokumentiert“ ergibt, solange scheint das Rätselraten, wenn auch nicht unberechtigt, so doch wenig weiterführend zu sein, nämlich deshalb, weil die Formen der Beschreibbarkeit auf einer digitalen Operationsbasis nicht mehr mittels Dokumenten beurteilt werden, sondern mittels „Performaten“. Dabei handelt es sich um dauerprozessierte und fluktuierende Formate des Internets, deren entscheidendes Merkmal nicht Informationsverarbeitung ist, sondern Performanz, die darin besteht, dass die bekannten Formen von Dokumenten in eine weitere operative Ebene überführt werden. Das Dokument selbst lässt nur zu, dass aus seiner spezifischen Form nur weitere Dokumente von gleicher Form erzeugt werden: aus Texten kann man nur weitere Texte machen, aus Bildern nur weitere Bilder, aus Filmen nur weitere Filme. Eine weitere Ebene wird nun durch das Internet ermöglicht, in der Dokumente in der Weise zusammengeführt werden, dass Performate entstehen, die statt Dokumentation Modifikation durch Manipulation erzeugen und als Formen benutzt werden, durch die sich eine näcshte Gesellschaft wiederum beschreibt. Und daraus resultiert dann auch die Frage, was noch als „kulturelles Artefakt“ verstanden, gesichert, geschützt, tradiert oder wie auch immer behandelt werden kann.

Die Frage nach dem „survival value“ ist eine Frage, die durch Performate einer virtuellen Gesellschaft beantwortet wird und die hinsichtlich der uns bekannten Unterscheidungsroutinen andere Differenzen zu erwägen hat. Damit ist freilich nichts darüber gesagt, was von den uns bekannten Unterscheidungen übrig bleiben wird. Aber man wird lernen, dass nicht eigentlich physisch handhabbare Objekte kulturelle Artefakte darstellen, die als ein wie auch immer verstandenes, abgeschlossenes Werk mit je eigener Integrität in Erscheinung treten, sondern eher als spezifische Prozesse einer ständigen performativen Manipulationsbedürfigkeit. In den Versuchen, eine „Copy-and-Paste“-Konzeption zu entwerfen scheint mir diese Entwicklung angedeutet zu sein.

Siehe auch dazu den Artikel
Wie entwickeln sich virtuelle Welten?