Differentia

Tag: Vertrauen

Wahrnehmungsbetrug in Kunst und Wissenschaft 1

zurück / Fortsetzung: Während in der Wissenschaft der Wahrnehmungsbetrug streng verboten ist und gerade darum dennoch betrieben werden muss, damit Wahrheit geprüft werden kann, wird der Wahrnehmungsbetrug in der Kunst nicht nur erlaubt, sondern auch erwartet und gefordert, was dazu führt, dass in der Kunst darauf auch verzichtet werden kann. Beides, sowohl das Verbot wie die Erlaubnis von Wahrnehmungsbetrug, haben dazu beigetragen, das Vertrauen in menschliche Wahrnehmung zu steigern.

Das Verbot von Wahrnehmungsbetrug in der Wissenschaft ist nämlich die erste Vorschrift zur Vernichtung von Wahrheit, weil nur auf dem Wege einer ersten Vernichtung von Wahrheit eine soziale Motivation zur Ermittlung und Bestätigung von Wahrheit gefunden werden kann, durch die der Nutzen dieses Verbots herausgefunden wird. Man könnte auch sagen: Das Verbot von Wahrnehmungsbetrug steigert die Irrtumszumutungen und damit zugleich die Anstrengungen, die erbracht werden müssen, damit wissenschaftliche Wahrheit dennoch zustande kommt.
Zeigen kann man dies am Dispositiv des sogenannten naturwissenschaftlichen Experiments. Das Arrangement des Experiments besteht aus mindstens zwei asymmetrisch angeordneten Beobachtern, von denen der erste an den zweiten den Vorschlag richtet, eine Hypothese zu überprüfen, indem man ein Spiel durchführt, das – anders als hypothetisches Spekulieren – weniger Anschlussmöglichkeiten eröffnet als die Spekulation selbst. Die Spekulation erbringt viele Möglichkeiten, das Spiel, die Ingangsetzung einer Mechanik, eines Apparates, einer Vorrichtung nur wenige. Dabei lautete die Ansage des ersten an den zweiten Beobachter: „Siehe was ich tue. Es kann sein, dass ich mich irre, aber du kannst dich von den Ergebnissen meines Tuns selbst überzeugen. Glaube nicht mir, sondern deiner Wahrnehmung.“
Unter der Voraussetzung, dass nun beide wechselseitig darüber informiert sind, dass Wahrnehmung sehr leicht manipulierbar ist, können sie sich dennoch auf ein solches Spiel einlassen, weil der erste es dem zweiten überlasst darüber zu urteilen, ob Manipulation vorliegt oder nicht. Das geht, weil der erste auf weitere Manipulaiton verzichtet und darauf wartet, ob dieser Verzicht kommuniziert wird. Wenn dies gelingt, kann der zweite glauben und behaupten, sich von den Ergebnissen des Expierments selber überzeugt zu haben. Darin besteht aber die Täuschung, die ihm allerdings nicht zum Nachteil, sondern zum Vorteil ausgelegt wird. Denn die Verzichtsleistung des ersten wahrzunehmen geschieht auch durch Manipulation, ist auch Täuschung über die Realität des Geschehens. Der zweite Beobachter ist nämlich durch eine rein soziale Struktur dazu verführt worden, sich auf das Dispositiv, dessen Bestandteil er nun geworden, einzulassen und darf sich davon befreit fühlen dies zugegeben. Er kann einfach behaupten, die Tatsachen, die sich durch das Experiment ergeben, sprächen eine klare Sprache. Der zweite Beobachter hat gleichsam das Recht erworben, die soziale Verführungsleistung zur Partizipation zu ignorieren und stattdessen zu behaupten, er habe eine vorgefundene Realität erkannt, durchschaut, begrifffen und wie auch immer bewertet. Tatsächlich täuscht er sich über den Verwicklungszusammenhang, der solange unentdeckt bleiben kann, solange anschließend ein weiterer Wahrnehmungsbetrug unter Verbot gestellt wird.
Das meine ich mit dem Satz: Das Verbot von Wahrnehmungsbetrug ist die erste Vorschrift zur Vernichtung von Wahrheit, weil nämlich Wahrheit ohne eine Wahrnehmungstäuschung gar nicht ermittelt werden kann. Dass dieser erste Betrug dennoch statthaft ist, hängt nur damit zusammen, dass er zum Vorteil des anderen ausgelegt wird. Es handelt sich gleichsam um einen fairen Betrug, also eine Täschung, die einen Gewinnen spendet, die ein Geschenk überreicht, die also keinerlei Notwendigkeit hat und gerade darum Erkenntnis, die weder Wahrheit noch Irrtum ist, zur Verständigung freigibt.
Auf diese Weise wird ein Vertrauen in Wahrnehmung durch Vorbehalte gegen die Verlässilchkeit von Wahrnehmung gewonnen. Das Vertrauen wird zwar Wahrnehmung zugerechnet, tatsächlich ist es ein Vertrauen in die soziale Gewährleistung der Verführung zum Vorteil. Und sofern dieses Vertrauen strukturbildend ist, kann Wahrnehmung trotz aller Vorbehalte gegen ihre Täuschbarkeit immer verlässlicher beobachtet werden

Auch die Kunst leistet seinen solchen Vertrauenzugewinn, allerdings auf andere Weise, nämlich indem sie den Wahrnehmungsbetrug, aber nur diese Art von Betrug, statthaft und erwartbar macht.

Fortsetzung

 

Werbung

Folge dem Führer? Angst, Vertrauen und Sicherheit

Ein selbsternannter Führer, ein Lotse fordert im Straßenverkehr ihm unbekannte Menschen, die mit ihm vor einer roten Fußgängerampel stehen, dazu auf, ihm über die Straße zu folgen. „Come on, follow me!“ Das Video zeigt einen Zusammenschnitt von Fällen, in denen die Leute dieser Aufforderung folge leisten. (Andere, abweichende Fälle sind beim Schneiden nicht mit berücksichtigt worden.)

Dieses Video ist eine sehr hübsche empirische Miniaturstudie, die zeigt, wie stark die moderne Gesellschaft ein Vertrauen in Menschenvermögen ausgebildet hat und wie sehr es fraglich wird, dass ein Misstrauen gegen Menschenunvermögen die zivilisatorische Zuverlässigkeit steigern könnte.

Für die Teilnahme am Straßenverkehr gilt zunächst ganz allgemein, dass er gar nicht funktionieren könnte, wenn nicht alle Beteiligten sehr viel Vertrauen sowohl in ihre eigene Leistungsfähigkeit hätten als auch in die Zuverlässigkeit aller anderen. Die Zuverlässigkeit ergibt sich dadurch, dass man die Verkehrsregeln kennt, dass man schnell entscheiden kann und muss, wann und wo sie gelten, dass man sich auch tatsächlich in jedem Augenblick an die Regeln hält und dass all dies jeder von jedem erwarten kann. Auch ergibt sich die Zuverlässigkeit nicht allein dadurch, dass man weiß, dass das Nichtbeachten von Verkehrsregeln bestraft wird. Die Angst vor Strafe allein erzeugt kein solches Vertrauen, sondern würde eher die Angst steigern und entmutigend wirken.
Die hochkomplexen Abläufe im Straßenverkehr sind durch Vertrauen bedingt, nicht durch Angst. Dem widerspricht kein Verhalten der Vorsicht, denn Vorsicht ist ja der Ausdruck von Vertrauen in die eigene Leistungs- und Zurechnungsfähigkeit. Entsprechend müsste man zeigen, dass auch der Verzicht auf Vorsicht eine Vertrauensleistung ist, die man sowohl gegen sich selbst als auch gegen andere erbringt.

Eben dies zeigt dieses Video. Zunächst könnte man annehmen, diese Miniaturstudie zeige, wie leicht Menschen zur eigenen Willenlosigkeit bereit sind, indem sie sich von einem Fremden führen lassen, ja sich sogar dazu verführen lassen, die Regeln zu brechen. Dieses Video macht aber nicht Menschenwillen sichtbar, sondern soziale Strukturen der Interaktion im Straßenverkehr, die für die Beteiligten nicht vollständig durchschaubar sind.

Eine wichtiges Strukturmerkmal des Interaktionsgeschehens im Straßenverkehr ist Hast und Eile. Der Grund, weshalb man an einer roten Fußgängerampel wartet besteht nicht darin ein Verbot einzuhalten, sondern darin, ein Vorsichtssignal zu beachten. Außerdem weiß man, dass die Autofahrer damit rechnen, dass die Fußgänger dies tatsächlich tun, weil sie selbst grün haben.
Und weil man aus Erfahrung weiß, dass man die ganze Verkehrssituation nicht überschauen kann, ist es trotz Eile ratsam auf grün zu warten.  Dies gilt auch, wenn mehrere Leute nebeneinander warten. Zwischen ihnen findet keine Interaktion statt. Das ändert sich plötzlich, wenn ein selbsternannter Verkehrspolizist auftaucht und die Aufforderung auspricht, ihm zu folgen. Jetzt findet Interaktion statt und damit Koordination von Handlung und Verhalten. Und welchen Grund gäbe es jetzt, dem Begehren nach Eile nicht nachzugeben? Warum noch länger ein Vorsichtssignal beachten, wenn jetzt durch Kommunikation die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass man gefahrlos überqueren kann, zumal ja auch die Folger ihre eigene Wahrnehmung und ihr Vorischtsverhalten beim Folgen gar nicht ausschalten?
Welchen Grund hätte man zu der Annahme, dass der selbsternannte Verkehrspolizist nicht die gleiche Vorsicht zeigen wollte, wenn durch eigene Wahrnehmung schon eine relative Gefahrlosigkeit der Situation ermittelt wurde? So erscheint die Aufforderng zum Folgen nur eine Bestätigung für die eigene Wahrnehmung zu sein, die ohne Kommunikation eher dazu führt, dass man wartet. Kommunikation erzeugt Vertrauen, also Handlung ohne Gewissheit, ohne vollständige Durchschaubarkeit der Situation. Wahrnehmung ohne Kommunikation könnte das nicht leisten, weil ein Vorsichtsverhalten eher zum Vermeiden eines Regelübertritts motivieren würde.

Was man mit diesem Video also gar nicht zeigen kann ist, dass Menschen sich einem Führer anvertrauen. Sie vertrauen der Kommunikation, wodurch die prinzipelle Undurchschaubarkeit der sozialen Situation akzeptiert wird, ohne sich über die eigene Wahrnehmung ungebührlich zu irritieren, da aufgrund der strukturierten Hast und Eile im Straßenverkehr eine konzentrierte Irritation über Wahrnehmung, also ein Vorsichtsverhalten, ohnehin immer schon geschieht.

Und die Vermutung, dass Menschen so leicht bereit wären, manipulative Anweisungen anderer zu beachten, ist reichlich albern. Man könnte ein zweites Experiment machen, indem der Führer bei rot über die Ampel und den Wartenden zuruft, ihm nicht zu folgen. Was wäre, wenn gar kein Führer beobachtbar wäre, wenn also einer allein ohne eigenen Sprechakt bei rot geht. In dem Fall dürfte man zweierlei beobachten, dass nämlich die einen folgen und die andern nicht.

Das Unvermögen, um das es hier geht, ist das menschliche Unvermögen die ganze Kommunikation zu durchschauen. Diese Undurchschaubarkeit ist aber gar nicht das Problem, sondern die Lösung, die allerdings nur schwer verstehbar gemacht werden kann, wenn Vorbehalte und Misstrauen die Beobachtung dirigieren.

%d Bloggern gefällt das: