Das Wunder der Gesellschaft – Elena Esposito über Risiko, Kontingenz und Zufall
Dieses Video ist ein Interview mit Elena Esposito über Risikogesellschaft, Kontingenz und die Frage nach der Bedeutung des Zufalls, die ab Minute 4.50 gestellt wird. Die Frage lautet: „Der Quantenpyhsiker Anton Zeilinger hat einmal gesagt, die größte Leistung der Naturwissenschaften in den letzten 100 Jahren sei die Entdeckung des Zufalls. Stimmen Sie zu?“ Sie hat zugestimmt!
Man erkennt sowohl an der Frage als auch an der Anwort wie die Wissenschaft in den letzten ca. 150 Jahren ihre Erfahrungsbedingung, gemeint ist damit die Bedingung ihrer Möglichkeit, derart geändert hat, dass sie nun etwas als Entdeckung ausgibt, das durch ihren Erfolg nur verschleiert, versteckt, blockiert oder in seiner Beobachtung behindert und erschwert wurde, nämlich: die Bedeutung des Zufalls.
Nicht nur die Physik, auch die Soziologie war ehedem angetreten, den Menschen die Verwunderung über die Welt auszutreiben mit der Behauptung, man könne alles, wirklich alles natürlich erklären. Es gäbe für alles Gründe: „Seit der Aufklärung ist es Bestimmung der Philosophie, das Staunen aufzuheben. Sinn der Soziologie ist es, nicht an den Zufall in der Gesellschaft zu glauben.“ So Wolf Lepenies in der Süddeutschen Zeitung im Jahr 2002.
Und nun? Der Zufall ist die größte Entdeckung der Wissenschaft? Was hier als Entdeckung gefeiert wird, ist eine große Pleite; es bezeichnet das Scheitern moderner Wissenschaft. Sie glaubte bisher immer, wissbar machen zu können, dass die Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft und von Gesellschaft bereits bekannt sei, weshalb sie sich ertüchtigte, ein Recht auf Indifferenz zu verteidigen, was sehr gut gelingen konnte, weil ihre Funktion immer an einen unsterblichen, also dem Normalfall der Gebrechlichkeit allen Daseins enthobenen Staat gebunden war. An diese Verlässlichkeit auf funktionierende Staatsgewalt hatte sich Wissenschaft gebunden und damit sie es bleiben kann, wird auch noch ihr Scheitern als neuartige Entdeckung gefeiert, weil eben dies die konventionelle Strategie war: Die Wissenschaft muss immer Neues entdecken. Sie darf nicht zugeben, was man schlechterdings auch ohne Wissenschaft wissen könnte: Sie weiß sehr viel und sehr Genaues über die Welt, die sie verstehbar machen kann, zu sagen, aber sie weiß fast nichts über die Herkunft ihres Rechts auf Indifferenz.
Und weil die Wissenschaft darüber auch gar nichts wissen muss – denn wer könnte sie dazu zwingen, hat die doch den Zwangsapparat auf ihrer Seite, der ihr das Recht auf Indifferenz (aka: „Freiheit der Wissenschaft“) garantiert – geht es unverdrossen weiter wie bisher: „Die größte Leistung der Wissenschaft in den letzten 100 Jahren ist die Entdeckung des Zufalls!“ – Kein Wunder also, dass die Soziologie keinen Sinn für das Wunder der Gesellschaft hat.