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Tag: Wahrnehmung

Wahrnehmungsbetrug in Kunst und Wissenschaft 2

zurück / Fortsetzung: Anders als in der Wissenschaft ist in der Kunst der Wahrnehmungsbetrug statthaft und darf erwartet werden. Die moderne Kunst ist eigentlich damit entstanden, dass Illusion, Täuschung und später die Verwirrung und Verzerrung von Wahrnehmung bis zur kompletten Vernichtung von Wahrnehmungssicherheit zu einem legitimen Recht avancierte, dies aber nur solange es um Wahrnehmung geht und nichts anderes. Aus diesem Grund reagiert der Kunstbetrieb sehr allergisch auf Kunstfälschung, sofern dabei nicht bloß die Wahrnehmung betrogen wird, sondern auch das Ansehen von Kunstexperten, die Erwartungen von Kunsthändlern und Kunstkäufern und schließlich auch ihr Geldbeutel. Wer mit dem Mittel des Wahrnehmungsbetrugs zugleich auch noch etwas anderes betrügt, darf kriminalisiert werden.

Der Wahrnehmungsbetrug ist in der Kunst statthaft, solange er nur die Unschuld des Betrachters rettet, solange es nur um ein Spiel geht, das ähnlich wie in der Wissenschaft, die sozial-strukturellen Voraussetzungen des Gelingens dieses Spiels verdeckt oder sie, wo erkennbar wird, dass sie sehr wohl eine Rolle spielen, mit ideologischen Zudringlichkeiten übertüncht.

Dass der Wahrnehmungsbetrug in der Kunst eine solche Attraktivität erwirtschaftet hat, eine Attraktivitat, die dazu führte, dass das Kunstgeschäft den ganzen Betrieb überwuchern konnte, hängt damit zusammen, dass auch die Kunst einen erheblichen Anteil dazu beigetragen hat, ein Vertrauen in Wahrnehmung zu gewinnen und zu stärken. Denn wenn man von der Voraussetzung ausgeht, dass Wahrnehmung sehr leicht zu täuschen, zu manipulieren und zu verwirren ist, wenn also kein überzeugender Grund dafür zu finden ist, der Wahrnehmung zu vertrauen, dann kann man es als eine sportliche Herausforderung auffassen, einen Wahrnehmungsbetrug auch dann zu versuchen, wenn ein gegenseitiges Informiertsein darüber ermittelbar ist, dass Wahrnehmungsbetrug erwartet wird.

Die Frage ist dann ja, ob er noch gelingen kann. Die Antwort lautet, dass er sehr wohl noch möglich ist, aber nicht mehr so einfach gelingt.  Das heißt: will ein Künstler ein Publikum dennoch betrügen, muss er einen enormen Aufwand leisten, der sehr hohe Anforderungen an seine eigene Wahrnehmungs- und Auffassungsgabe und an seine Geschicklichkeit allgemein stellt. Gerade weil Kunst unter dieser Voraussetzung eine Hürde des Gelingens aufbaut, sie sich also unwahrscheinlich macht, können ihre Ergebnisse umso beeindruckender durchschlagen.

Dies nicht etwa deshalb, weil man glauben will was man sieht, sondern weil man im Gegenteil das nicht glauben kann. Denn wird einem Publikum etwas zur Ansicht und zum Gespräch angeboten, von dem man noch nie gehört hat und das sonst nirgends zu sehen ist, ist das Unglaubliche dasjenige, was die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wird dies über mehrere Generationen hinweg in einem Steigerungszusammenhang von Erwartungen an Unwahrscheinlichkeit einerseits und Unglaubwürdigkeit des Gelingens andererseits überführt, entfaltet sich eine Kunstproduktion, die bald den Ausgangspunkt für ihr Entstehen archäisiert, ihn also in Vergessenheit geraten lässt, und stattdessen eine bunte Welt auswirft, die jede treffsichere Urteilsfähigkeit über Kunst vernichtet.

Der Ausdruck dafür, den der Soziologe Peter Fuchs einmal formuliert hat, lautet: Die Kunst entwickelt einen Midas-Code. Wenn nur irgendwo ein Künstler als Künstler auffällt, dann wird alles in Kunst verwandelt was er macht. Egal was auch immer es ist, es ist Kunst solange es nur um die Manipulation, Verwirrung oder Verzerrung von Wahrnehmung geht, inklusive der sich daran anknüpfenden Meinungsdiskussionen, deren Grad an Haltbarkeit man einschätzen kann wie man will. Aber auch,  wenn man einem solchen Diskurs Geringschätzung entgegenbringen will, mindestens gilt auch noch für die Geringschätzung, dass sie ein Selbstdeeindruckungspotenzial einschließt, das im Verlauf der Fortsetzung des Kunstdiskurses sehr vorhersehbar produktiv wirkt und das auf diese Weise ein Vertrauen in Wahrnehmung verstärkt. Dazu gehört schließlich auch die Selbstwahrnehmung, die ab einem bestimmten Grad ihrer Erwartung durch gar nichts mehr zu erschüttern ist, auch nicht durch künstlerischen Betrug.

Davon erzählt das Beispiel des Kunstfälschers Mark Landis, dem es gelungen ist den Midas-Code der Kunst auszutricksen.

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Wahrnehmungsbetrug in Kunst und Wissenschaft 1

zurück / Fortsetzung: Während in der Wissenschaft der Wahrnehmungsbetrug streng verboten ist und gerade darum dennoch betrieben werden muss, damit Wahrheit geprüft werden kann, wird der Wahrnehmungsbetrug in der Kunst nicht nur erlaubt, sondern auch erwartet und gefordert, was dazu führt, dass in der Kunst darauf auch verzichtet werden kann. Beides, sowohl das Verbot wie die Erlaubnis von Wahrnehmungsbetrug, haben dazu beigetragen, das Vertrauen in menschliche Wahrnehmung zu steigern.

Das Verbot von Wahrnehmungsbetrug in der Wissenschaft ist nämlich die erste Vorschrift zur Vernichtung von Wahrheit, weil nur auf dem Wege einer ersten Vernichtung von Wahrheit eine soziale Motivation zur Ermittlung und Bestätigung von Wahrheit gefunden werden kann, durch die der Nutzen dieses Verbots herausgefunden wird. Man könnte auch sagen: Das Verbot von Wahrnehmungsbetrug steigert die Irrtumszumutungen und damit zugleich die Anstrengungen, die erbracht werden müssen, damit wissenschaftliche Wahrheit dennoch zustande kommt.
Zeigen kann man dies am Dispositiv des sogenannten naturwissenschaftlichen Experiments. Das Arrangement des Experiments besteht aus mindstens zwei asymmetrisch angeordneten Beobachtern, von denen der erste an den zweiten den Vorschlag richtet, eine Hypothese zu überprüfen, indem man ein Spiel durchführt, das – anders als hypothetisches Spekulieren – weniger Anschlussmöglichkeiten eröffnet als die Spekulation selbst. Die Spekulation erbringt viele Möglichkeiten, das Spiel, die Ingangsetzung einer Mechanik, eines Apparates, einer Vorrichtung nur wenige. Dabei lautete die Ansage des ersten an den zweiten Beobachter: „Siehe was ich tue. Es kann sein, dass ich mich irre, aber du kannst dich von den Ergebnissen meines Tuns selbst überzeugen. Glaube nicht mir, sondern deiner Wahrnehmung.“
Unter der Voraussetzung, dass nun beide wechselseitig darüber informiert sind, dass Wahrnehmung sehr leicht manipulierbar ist, können sie sich dennoch auf ein solches Spiel einlassen, weil der erste es dem zweiten überlasst darüber zu urteilen, ob Manipulation vorliegt oder nicht. Das geht, weil der erste auf weitere Manipulaiton verzichtet und darauf wartet, ob dieser Verzicht kommuniziert wird. Wenn dies gelingt, kann der zweite glauben und behaupten, sich von den Ergebnissen des Expierments selber überzeugt zu haben. Darin besteht aber die Täuschung, die ihm allerdings nicht zum Nachteil, sondern zum Vorteil ausgelegt wird. Denn die Verzichtsleistung des ersten wahrzunehmen geschieht auch durch Manipulation, ist auch Täuschung über die Realität des Geschehens. Der zweite Beobachter ist nämlich durch eine rein soziale Struktur dazu verführt worden, sich auf das Dispositiv, dessen Bestandteil er nun geworden, einzulassen und darf sich davon befreit fühlen dies zugegeben. Er kann einfach behaupten, die Tatsachen, die sich durch das Experiment ergeben, sprächen eine klare Sprache. Der zweite Beobachter hat gleichsam das Recht erworben, die soziale Verführungsleistung zur Partizipation zu ignorieren und stattdessen zu behaupten, er habe eine vorgefundene Realität erkannt, durchschaut, begrifffen und wie auch immer bewertet. Tatsächlich täuscht er sich über den Verwicklungszusammenhang, der solange unentdeckt bleiben kann, solange anschließend ein weiterer Wahrnehmungsbetrug unter Verbot gestellt wird.
Das meine ich mit dem Satz: Das Verbot von Wahrnehmungsbetrug ist die erste Vorschrift zur Vernichtung von Wahrheit, weil nämlich Wahrheit ohne eine Wahrnehmungstäuschung gar nicht ermittelt werden kann. Dass dieser erste Betrug dennoch statthaft ist, hängt nur damit zusammen, dass er zum Vorteil des anderen ausgelegt wird. Es handelt sich gleichsam um einen fairen Betrug, also eine Täschung, die einen Gewinnen spendet, die ein Geschenk überreicht, die also keinerlei Notwendigkeit hat und gerade darum Erkenntnis, die weder Wahrheit noch Irrtum ist, zur Verständigung freigibt.
Auf diese Weise wird ein Vertrauen in Wahrnehmung durch Vorbehalte gegen die Verlässilchkeit von Wahrnehmung gewonnen. Das Vertrauen wird zwar Wahrnehmung zugerechnet, tatsächlich ist es ein Vertrauen in die soziale Gewährleistung der Verführung zum Vorteil. Und sofern dieses Vertrauen strukturbildend ist, kann Wahrnehmung trotz aller Vorbehalte gegen ihre Täuschbarkeit immer verlässlicher beobachtet werden

Auch die Kunst leistet seinen solchen Vertrauenzugewinn, allerdings auf andere Weise, nämlich indem sie den Wahrnehmungsbetrug, aber nur diese Art von Betrug, statthaft und erwartbar macht.

Fortsetzung

 

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