Differentia

Tag: Demokratie

Warum ich nicht zur Wahl gehe: Weil ich eine Karteileiche bin

Am 24. September 2017 findet die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag statt.

Ich nehme seit 1999 nicht mehr an einer Wahl teil und werde das auch in Zukunft nicht tun.

Das letzte mal hatte ich 1998 Die Grünen gewählt. Nachdem die Wahl vorbei war, wurde ein Grüner, nämlich Joschka Fischer, zum Außenminister ernannt. Darüber hatte ich mich seiner Zeit sehr gewundert. Warum sollte das Mitglied einer ökologisch-pazifistischen Partei Außenminister werden? Wirtschaftsminister hätte mir eingeleuchtet, Vekehrsminister, Umweltminister, Verbraucherminister, ja, aber Außenminister?
Der deutsche Staat stammt aus dem 19. Jahrhundert. Nach der damaligen Staatslehre war der Außenminister der Chefdiplomat, dessen Aufgabe es unter anderem auch war, die Kriegserklärung zu überbringen. 1998 konnte ich nicht im geringsten daran glauben, dass ein deutscher Außenminister einen Krieg rechtfertigen würde, schon gar nicht einen illegalen. Im Frühjahr 1999 war es dann soweit. Die NATO führte einen illegalen, weil völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien, ein Krieg, der von Außenminister Fischer mit dem Argument gerechtfertigt wurde, dass nicht nur „nie wieder Krieg“ der Grundsatz einer deutschen Politik sei, sondern auch „nie wieder Auschwitz“. Diese Begründung führte Fischer für den Krieg an: es ginge darum, einen Völkermord zu verhindern, was es rechtfertige, einen Angriffskrieg auf einen souveränen Staat zu führen.

Ich glaubte damals zuerst eine Wahrnehmungsstörung zu erleiden. Ich konnte das gar nicht glauben. Es dauerte etwas, bis ich  darüber nachdenken konnte. Das Ergebnis meines damaligen Nachdenkens war:

  1. Wenn zwei Grundsätze mit einander kollidieren und man gegen den einen verstoßen muß um sich an den anderen zu halten, und wenn man dies für gerechtfertigt halten will, dann spricht nichts dagegen, auch die umgekehrte Entscheidung zu treffen: Um einen Krieg zu verhindern, könnte ein Völkermord gerechtfertigt sein.
  2. Der Grundsatz „Nie wieder Auschwitz“ bezieht sich auf eine deutsche Politik innerhalb des deutschen Staates und seines Staatsgebietes. Massenmorde, Völkermorde werden überall auf der Welt begangen. Eine Politik der Völkerverständigung kann nicht darin bestehen, jeden Staat zu überfallen, der gegen einen heiligen Grundsatz der deutschen Politik verstößt.
    Der Grundsatz: „Nie wieder Auschwitz“ ist ein innenpolitischer Grundsatz. Der Grundsatz: „Nie wieder Krieg“ ist außenpolitischer. Diese beiden Grunssätze kollidieren nicht miteinander, wenn man auf eine imperialistische Politik verzichten will.
  3. Es gibt keine überzeugende Rechtfertigung für einen Angriffskrieg, auch nicht die Verhinderung eines Völkermordes.

Ich musste damals zu Kenntnis nehmen, dass solche Überlegungen, die einem verständigen Menschen sehr wohl einleuchten können, keine Rolle spielen. Der Staat führt Krieg, wann er will, gegen wen er will, ganz gleichgültig, welche sachlichen, juristischen oder politischen Einwände dagegen vorgetragen werden und ganz egal, welche Lehren aus der Vergangenheit man gezogen hat. Es werden ewig gültige Grundsätze aufgestellt, heilige Eide geschworen und bei passender Gelegenheit werden beide über Bord geworfen.

Es waren damals bei diesem Krieg gegen Jugoslawien mehrere hundert, vielleicht tausend unbeteiligte Zivlisten getötet worden. Mindestens hatte also der Außenminister eine Massentötung von Zivilisten ebenfalls gerechtfertigt. Einer davon hätte ich sein können. Ich hatte nämlich Bekannte, die mich zu einem Besuch in Belgrad eingeladen hatten. Weil ich anderes zu tun hatte, war ich nicht hingefahren. Später erzählten mir meine Bekannten, dass zwei aus ihrer Verwandschaft während einer Bombardierung ums Leben gekommen waren. Wäre ich dort hingefahren, hätte ich bei einem geplanten Verwandtschaftsbesuch ebenfalls von Bomben getroffen werden können. Es hätte passieren also können, dass dieser Außenminister Fischer meinen Tod, also den Tod von einem seiner Wähler, verantwortet hätte. Und ich bemerkte damals ganz deutlich, dass ich keine andere Wahl hatte, als damit einverstanden zu sein. Denn es ist ja ganz klar: einen Wähler zu töten fällt statistisch nicht ins Gewicht, solange es viele andere gibt. Deshalb wurde mir klar, dass ich ab sofort im Wählerverzeichnis eine Karteileiche bin. Ein Politiker, der behauptet, es käme auf jede Stimme an und der zugleich die Tötung eines einzigen seiner Wähler rechtfertigen kann, will von mir nicht mehr ernstgenommen werden und hat das auch nicht nötig. Ein Politiker hat andere Sorgen.

Aus alldem hatte ich seinerzeit den Schluss gezogen, dass eine Wahl nichts anderes ist als eine Wählerbefragung, die darüber entscheidet, wer im Staat zur Karriere zugelassen wird oder wessen Karriere beendet wird. Eine Wahl ist keine Entscheidung über Politik, sondern über Karrieren. Eine Politik ist nicht abhängig von individuellen Karrieren einzelner Parteimitglieder, sondern ergibt sich aus den Zwängen des Staatswesens, bzw. der Staatsgewalt selbst. Aus diesem Grund kann auch ein ungebildeter Frankfurter Droschkenkutscher, der sich in seiner Jugend mit Polizisten auf der Straße geprügelt hat, Außenminister werden. Die Politik sucht ihre eigenen Zwänge und verwaltet sie. Und diese Zwänge werden mit keiner Wahl abgewählt, sondern nur bestätigt und damit nur gerechtfertigt. Man konnte das im Verlauf dieser rot-grünen Bundesregierung weiter beobachten: diese Hartz-Politik, diese Riesterrente, die NATO-Erweiterung, diese ideologische Europapolitik  – all das ergibt sich nur aus den selbstgemachten Zwängen des Staates und kann nicht abgewählt werden.

Wir können leicht feststellen, dass die ganze Politik nichts anderes tut als ihre Zwänge zu verwalten: Gern würde man wieder einen Kalten Krieg gegen Russland führen, der Feindstress wird jedenfalls gesucht. Diese Auslandseinsätze in Afghanistan haben außer Toten nichts erbracht, die Arbeitsmarktpolitik ist fleißig damit beschäftigt, ihre Statistiken zu frisieren und die europäische Staatsschuldenkrise kennt keinen Ausweg, sondern wird nur ausgehalten. Und der Innenminister will zur Terrorbekämpfung ganz unverdrossen ein Bürgerrecht nach dem anderen fallen lassen, wissend, dass das nichts zur Terrorbekämpfung beiträgt. Mit der Partei hat das nichts zu tun und auch nicht mit dem individuellen Menschen. Es sind die Zwänge des Staates, nicht die Uneinsichtigkeiten von Politikern, die diese Dinge herstellen.

Es gibt auch eine überraschende Wendung, die aber den selben Zusammenhang betrifft:

Bevor die AfD gegründet wurde war mein Gedanke der, dass die CDU in Zukunft jede Wahl gewinnen kann. Sie braucht im Wahlkampf nur populistische ausländerfeindliche Stimmungsmache zu betreiben. Wie das geht, hatte Roland Koch im Wahlkampf 1998/1999 vorgeführt. Gegen solche Methoden kann eine SPD nichts machen. Interessanterweise hat sich nun die CDU durch ihre Vorsitzende ein solches Vorgehen, das zweifellos sehr erfolgreich wäre, selbst verboten und die ausländerfeindliche Stimmungsmache an die AfD delegiert. Aber das überraschende Ergebnis: die CDU wird die Wahl trotzdem gewinnen. Warum? Es hat sich herum gesprochen, dass das eine, was im Wahlkampf geschieht, mit dem anderen, was in der Regierung geschieht, nicht viel zu tun hat. Deshalb scheint mir die CDU die erste Partei zu sein, die es gar nicht mehr nötig hat, Wahlkampf zu betreiben. Sie wird trotzdem gewählt, weil – das geht aus dem Verhalten von Angela Merkel deutlich hervor – egal ist, was versprochen, was in Aussicht gestellt, was geplant wurde. So kommt es, dass eine konservative Partei in Sachen Demokratie die progressivste ist, indem sie den Leuten gar nichts mehr verspricht.
Der Staat selbst erzeugt seine Zwänge und steuert das Entscheidungsverhalten der Regierung. Das heißt dann auch, dass unerfüllbare Versprechungen gar nicht mehr gemacht werden müssen. Eine ganz traurige Figur macht darum die SPD: die Wahlkämpfer denken verzweifelt darüber nach, was sie den Leuten noch versprechen können. Sie finden nichts mehr, also versprechen sie ihnen mehr Gerechtigkeit. Was sollen sie sonst machen?

Du hast mit der Abgabe einer Stimme keinen Einfluss auf die Politik. Das ist eine Märchengeschichte, die eher an religösen Aberglauben erinnert: die Stimmabgabe scheint mir eher den Charakter einer heiligen Pflicht des frommen Staatsbürgers zu sein, der den Glauben an eine bessere Welt nicht verlieren will und nach jeder Wahl feststellt, dass er eben dazu gezwungen ist. Mich erinnert die Inbrunst, mit der der stolze Staatsbürger zur Stimmabgabe schreitet, eher an das Verhalten der kaiserlichen Untertanen des 19. Jahrhunderts, die nicht deshalb in die Gottesdienste gegangen sind, weil sie so fest an Gott geglaubt hatten, sondern weil sie dachten: irgendwas muss man ja machen. Denn man weiß ja nicht, obs trotzdem hilft. Also überlässt man sich den Konformitätserwartungen. Da ist man immer auf der sicheren Seite, weil man sich so dem Verdacvht auf Hochverrat am bsten entziehen kann.

Es ist darum auch ziemlich egal wen du wählst. Und ich weiß genau, dass nur wenige Leser dieser Zeilen die Gelassenheit mitbringen, sich davon beeindrucken zu lassen. Denn die Einsicht, dass du keinen Einfluss hast, beleidigt den frommen Staatsbürger; und zur Rettung seiner billigen Illusionen ist er bereit, sich jeden Quatsch gefallen zu lassen, nur nicht das Argument, dass er mit seiner Wahl die Wahl nicht beeinflusst und schon gar nicht irgendwas bestimmt. So etwas kennt man von religiösen Glaubenswahrheiten. Es ist komplett irres Zeug, aber heilig ohne Ende!

Die Wahl ist ein Ausweichmanöver, mit dem der Staat von seinen selbstgemachten Zwängen ablenkt, damit er sich nach der Wahl wieder mit ihnen befassen kann. Der Staatsbürger ist nur das Stimmvieh, das hörig mitmacht. Was soll es sonst machen?

Es gibt keinen Grund wählen zu gehen.

Über Populismus, Wahlen und Wahlkämpfe

Über Populismus, Immunsysteme und das Weinen der Demokratie

Demokratie ist eine populistische Großveranstaltung. Sichtbar wird dies bei jedem Wahlkampf. Wahlkämpfe sind Festivals der Stimmungsmache. Die Musik wird bei diesen Gelegenheiten lauter gedreht um herauszufinden, wer mit wem tanzen will. Wahlkämpfe sind Jahrmärkte, die zum anschließenden Gottesdienstbesuch motivieren. Den Gang ins Wahllokal würde ich jedenfalls so auffassen. Der fromme, politisch informierte und engagierte Bürger, der das Recht erhält, sich auf die Bedeutung seiner individuellen Wahlentscheidung sehr viel einbilden zu dürfen, tritt mit dem Aufsuchen des Wahllokals gleichsam vor einen Richterstuhl, vor dem er demütig sein Haupt neigt, erfüllt von dem Glauben daran, dass er mit seiner Stimmabgabe zugleich eine Verantwortung für das Große und Ganze übernimmt. Was ein eitler Blödsinn ist.

Wahlkämpfe sorgen dafür, ein plausibles Argument außer Funktion zu setzen, welches besagt, dass mit einer Wahlentscheidung, gerade weil es nur eine individuelle sein darf, keine Entscheidung über den Wahlausgang des Kollektivs getroffen wird, und dass trotzdem Wahlen mit großer Beteiligung durchgeführt werden können. Das kann jeden beeindrucken, der gelernt hat, die soziale Welt ob ihrer Curiositas zu schätzen. Durch Wahlkämpfe gelingt es, aus der simplen Tatsache, dass jede Stimme zählt, ein für alle gleichermaßen geltendes Versprechen zu machen, welches besagt, dass jede Stimme besonders viel zählt, ohne zugleich ein fehlendes Maß für diese Differenz zu unterdrücken. Denn egal, ob jede Stimme besonders viel oder besonders wenig zählt, in jedem Fall gilt nur der Grundsatz: 1=1, pro Nase eine Stimme. Wahlkämpfe müssen dafür sorgen, diese nüchterne und sehr sachliche Einsicht abzuweisen, ohne zu verhindern, dass der Wahlausgang nach genau diesem Grundsatz ermittelt wird. Wollte man nach einer Erklärung dafür suchen, weshalb Wahlen überhaupt durchführbar sind, müsste man wohl überlegen, dass eben diese Paradoxie gesellschaftlich behandelt wird: nur, wenn kaum einer bemerkt, dass 1=1 gilt, kann nach diesem Grundsatz ein Wahlausgang ermittelt werden, was wiederum jedem bekannt gemacht wird, ja sogar, dass eine ganze Staatsmacht in Gang gesetzt wird, die die Einhaltung dieses Grundsatzes garantiert. Die Staatsmacht garantiert damit zweierlei zugleich: die strikte Einhaltung dieses Grundsatzes und die Außerkraftsetzung seines persuasiven Gehalts. Das ist irre, kann begeistern und kann zugleich erklärbar machen, weshalb dieser Irrsinn auch auf Ablehnung und Geringschätzung stoßen kann.

Wahlkämpfe und Wahlen sind, das macht sie mit heiligen Handlungen von Priestern vergleichbar, die magische Umwandlung eines bedeutungslosen in einen bedeutungsvollen Grundsatz. Wahlkämpfe und Wahlen sind sich ergänzende Abläufe von abergläubischer und rationaler Praxis.

Aus diesem Grund kommt man mit der Vermutung nicht weiter, die glaubhaft machen will, dass so etwas nur infolge eines großen kollektiven Besäufnisses möglich sei, welches wie ein ideologischer Verblendungszusammenhang die Einsicht in die wahre Wirklichkeit der Verhältnisse verschleiert. Denn es wird ja weder bei Wahlkämpfen noch bei Wahlen, das gilt auch für das Wandlungsgeschehen in der Eucharistie, irgendetwas unterdrückt; es wird gar nichts versteckt, verheimlicht. Es wird nichts der Wahrnehmung und nichts der gesellschaftlichen Kommunikation entzogen, sondern: aufgrund dieser Paradoxie gibt es nicht einfach gleichwertige Möglichkeiten der Kommunikabilität von Evidenz, Sachlichkeit und Plausibilität, weil keine Gleichgültigkeit entsteht. Es gibt aufgrund dieser Paradoxie keine beliebig-symmetrisch Ordnungsfähigkeit von Betrachtungsweisen. Ein Wahlkampf ist so etwas wie ein Festival, das zu Abgabe eines Wetteinsatzes motiviert. Die Verkündigung des Wahlausgangs entspricht der Ausschüttung der Gewinne. Und beides zusammen sind sich gegenseitig entschuldigende Vorgänge: Wahlkämpfe machen den politischen Betrug statthaft, damit Wahlen durchgeführt können. Und Wahlen verbieten jeden Betrug, damit Wahlkämpfe wieder anfangen können.

Wenn man auf diese Weise das Gelingen von Demokratie auffassen kann, dann kommt man zu einer anderen Betrachtungsweise darüber, was man von diesem Populismus halten kann.