Wenn ich das Bild von einem Menschen sehe … Eine Bemerkung zur politischen Zoologie @inesde_c @pfarrerpohl
Wenn ich das Bild von einem Menschen sehe, dann weiß ich, je länger ich es mir anschaue, sehr viel über dieses Bild und kann, wenn es darauf ankäme, sehr viel darüber sagen – über das Bild, nicht über den Menschen! Das gilt auch, wenn ich Bücher lese, die über Menschen informieren. Ich weiß dann, je aufmerksamer und gründlicher ist das Buch studiere, sehr viel über dieses Buch, aber sehr wenig über den Menschen, weder über den Menschen, der es geschrieben hat noch über denjenigen, von dem dort die Rede ist. Fürwahr: denn ich hab ein Buch studiert und keinen Menschen (Und wir lassen die komplizierte Frage beiseite, ob man Menschen überhaupt studieren kann.)
Das mag nun gewiss allein mein individuelles Pech sein, weil ich nicht zu den moralisch Bessergestellten gehöre, die derlei Probleme nicht gut kennen. Diese moralisch Bessergestellten schauen sich das Bild von einem Menschen flüchtig an, finden ihre moralischen Forderungen nicht erfüllt, können dann glauben, sehr viel über einen Menschen zu wissen und können umso empörter ihre Menschenmoral unaufgefordert in die Welt hinaus blasen, je weniger der Mensch, über den sie sich ein Bild gemacht haben, dem Bild entspricht, das sie so abstoßend finden.
Dieser Art der moralischen Besserstellung erwartet, dass andere Menschen sich unaufgefordert dazu aufgefordert fühlen sollten, sich einem Bild gleichzumachen, dass andere sich von ihnen bereits gemacht haben und nicht ändern wollen. Und jedes erwartbares Scheitern solcher Forderung führt zur Selbstaushändigung von Rechten der Belehrung oder, falls Steigerung vonnöten ist, zu Anschrei- oder Aufschreirechten, zuzüglich der Kenntlichmachung einer rechtschaffenden Moral, der sich niemand, aufgrund ihrer Verlogenheit, so einfach unterwerfen kann.
Aus diesem Grunde interessiere ich mich sehr für den Schauspieler Klaus Kinski, über dessen menschliche Wahrheit nur die moralisch Bessergestellten etwas zutreffendes wissen können, die ein Buch über diesen Menschen gelesen haben und dann über einen Menschen besser informiert sind als über das Buch, das sie studiert haben.
Ich dagegen, der auf der Seite der Gebrechlichkeit und damit auch auf der Seite der Gebrechlichkeit jeder Moral steht, studiere sehr gern die Anschrei-Orgien dieses Schauspielers (hier ein gelungenes parodistisches Potpourri), um die Bilder und Töne besser zu verstehen, um die Struktur genauer zu erkennen, durch die es gelingt, die Oszönität dieser Art der Schauspielerei zu kommunizieren.
Warum fällt es eigentlich so schwer, zu erkennen, dass der Schauspieler immer ein Schauspieler war, solange nur Kamera und Mikrophon eingeschaltet waren? Solange nur Publikum anwesend ist? Warum fällt es so schwer zu erkennen, dass der Schauspieler nur ein Arschloch spielt, das andere grundlos anschreit, beleidigt und demütigt? Und warum fällt es so schwer zu verstehen, dass damit noch keineswegs geklärt ist, dass der Schauspieler selbst ein Arschloch ist? Niemand würde so einfach glauben wollen, dass ein Schauspieler, der einen Mörder spielt, ein Mörder ist. Aber in Fall Kinki fällt es sehr leicht etwas entsprechendes zu glauben, obwohl darüber rein gar nichts informiert. Das ist beachtlich: zu sehen ist nur ein Schauspieler, der einen Schauspieler darstellt, der sich wie ein Arschloch benimmt. Authentizität ist gibt es auf eine Bühne nicht und schon gar nicht, sobald die Beobachter voneinander wissen, dass die Beobachtung der Schauspielkunst durch technische Verfahren der Abbildung stark verfeinert wird. Denn in dem Fall verfeinert sich auch die Reflexion von Schauspielern, die sich immer mehr anstrengen müssen, um als Schauspieler gesehen und angenommen zu werden. Und kann es vielleicht sein, dass der Schauspieler Kinski diese professionelle Reflexion schauspielerisch reflektiert hat?
Dem moralisch Bessergestellten ist das alles zu kompliziert. Im Fall Kinski funktioniert, was in jedem anderen Fall niemals einleuchten würde: Wenn der Schauspieler Bruno Ganz Adolf Hitler spielt, dann wird niemand so einfach glauben können, der Schauspieler könne mit der Person verwechselt werden, die er spielt; er sei ihr irgendwie ähnlich, weil er sich ihr mittels Schauspielerei ähnlich macht. Und warum sollte diese Konvention nicht gelten, wenn der Schauspieler Klaus Kinski sich selber spielt? Ist er dann schon mit sich selbst nicht zu verwechseln, nur weil der Schauspieler den gewiss riskanten Versuch unternimmt, seine Identität, seine Verwechselung mit sich selbst, als Obszönität durch Ausnutzung der Faszinationsbereitschaft eines Publikums zu skandalsieren? Was spricht dagegen zu sagen: alles was man sehen und hören kann, wenn man die Bilder sieht und die Töne hört, die durch Fernsehen kommuniziert werden, spricht von aufwändig hergestellten Bildern, die nicht hätten zustande kommen können, wenn der Schauspieler nicht so tüchtig, nicht so diszipliniert gewesen wäre? Die Bilder zeigen einen ziemlich guten Schauspieler – und es sind Bilder, die das zeigen, nicht der Schauspieler, denn der kann nur schreien und wüten. Aber er kann die Bilder über ihn weder herstellen noch kommunizieren.
Eine politische Zoologie – das ist eine symbolische Ordnung, die eine moralischen Beobachtung von Menschen reproduziert, inklusive des Rechts auf Verdächtigung und Beleidigung derjenigen, die sich dieser Ordnung nicht fügen können oder wollen – kann mit solchen Überlegung rein gar nichts anfangen.
Das kommt daher, dass diese politische Zoologie zu einem Zeitpunkt entstanden ist als Massenmedien noch nicht oder noch nicht so gut funktionierten. Aber davon später mehr.