paranoides und paranoisches Beobachten
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Die Unterscheidung von paranoidem und paranoischem Beobachten würde ich folgendermaßen konzipieren:
Das moderne Beobachtungsverhalten lässt sich in zwei Modi aufteilen. Der erste Modus ist das paranoische, der zweite das paranoide Beobachten, welches das kritische Beobachten, dessen Sonderfall es in der modernen Gesellschaft ist, als den allgemeinen Fall ermöglicht.
Jeder Modus des modernen Beobachtungsverhaltens unterliegt Bedingungen einer höchst unvollständigen Informiertheit über die Welt.
Kritik als Sonderfall des paranoiden Beobachtens ist entstanden, um der möglichen Gefahr eines Überschusses von Schwachsinn dadurch zu begegnen, dass für die Gewinnung einer Urteilsgewissheit nur wenige Möglichkeiten übrig bleiben dürfen, mit denen man eine Urteilsgewissheit begründen kann. Kritik ist gleichsam die Selbstimmunisierung gegen Gesellschaft, weil Gesellschaft nur in seltenen Fällen Vernunft, in den allermeisten Fällen nur Blödsinn und Schwachsinn erzeugt. Kritik erzeugt durch disziplinierte Selbstverarmung der Wahrnehmung kein vollständiges Weltverstehen, sondern nur ein gesichertes Verstehen von wenigen Möglichkeiten der Welt, unter der Voraussetzung, dass der größte Teil sozialen Überschusssinns (i.e. Schwachsinn) vernachlässigt und beiseite geschoben wird. Kritik ist die Steigerung von Urteilsfähigkeit durch methodische Vermeidung des größten Teils aller sinnvollen und sozial ermöglichten Möglichkeiten. Kritik ist gesellschaftliche disziplinierte Asozialität.
Aus diesem Grunde neigt das kritische Beobachten dazu, sich das paranoide Beobachten als Antagonisten, als Feind an Land zu ziehen. Denn auch das paranoide Beobachten unterliegt einer unvollständigen Informiertheit, aber versucht trotzdem, eine Urteilsgewissheit zu erzeugen, ohne die vielen überschüssigen Sinnmöglichkeiten zu vermeiden. Paranoides Beobachten führt zur Urteilsgewissheit durch Akzeptanz unüberschaubarer Sinnmöglichkeiten, ohne die daraus resultierende eigene Urteilsunfähigkeit zu beobachten, sondern führt dazu, eine Urteils- und Überzeugungsfähigkeit auch da zu behaupten, wo aufgrund der Selbstauskunft des Beobachters nur Rätsel, nur Wunder, nur Geheimnise erkennbar werden. Daher neigt das paranoide Beobachten zur Selbstpathologisierung, weil es auch dann Antworten oder Wahrheiten behauptet werden, wo jeder Selbstauskunft nach nur Fragen bleiben.
Der typische Fall: Verschwörungstheorien: Wenn behauptet wird, dass etwas Entscheidendes geheim gehalten würde, dann kann dies im wahrscheinlichen Fall nicht dazu führen, dass man genau wisse, was da geheim gehalten wird, weil es ja geheim ist, sondern müsse eher dazu führen, dass man aufgrund der Annahme, dass etwas geheim gehalten wird, nicht genau wissen kann, worum es geht, so jedenfalls aus kritischer Perspektive, die auch Urteilsgewissheit gewinnen will und sich entsprechend mit Urteilsungewissheit begnügt und davon überzeugt ist, dass das ausreicht, ohne die Rästsel selbst aufklären zu können.
Deshalb ist paranoisches Beobachten der Antagonist des paranoiden Beobachtens, weil paranoisches Beobachten nicht Urteilsgewissheit steigern, sondern vernachlässigen will.
Paranoisches Beobachten geht auch von Uninformiertheit aus und lässt sich auf Überschusssinn und Schwachsinn ein, kommt aber nicht zu dem Ergebnis der Urteilsgewissheit, sondern kommt dazu, dass das eigene Nichtwissen nicht mit Überzeugung vertreten werden kann. Man könnte auch sagen, dass das paranoische Beobachten das kritisch-sokratische Beobachten von der anderen Seite überholt. Das kritisch-sokratische Beobachten heißt: Ich weiß, dass ich nichts weiß, paranoisches Beobachten heißt: ich weiß mehr als ich weiß, aber ich kann darüber nicht reden, weil ich auch über mein Nichtwissen schlecht informiert bin. Aus diesem Grund kennt das paranoische Beobachten keinen Schwachsinn und keine Vernunft, sondern nur Sinn und die Verwunderung über eine grundlos verworrene Welt.