Differentia

Tag: Evolution

Medieninnovation als Überfall 3 Überraschung

Internetperformat 2018

Am Anfang war die Unschärfe, die Verfremdung und die Überraschung. Mit Ansage hätte die Überraschung niemals kommen können, mag man glauben, ist aber vielleicht ein Irrtum. Zunächst stimmt es natürlich: was mit Ansage kommt, kann nicht überraschen, weil, wenn erwartet, ist schon eine Struktur vorhanden, durch die alles, was anfällt, verarbeitet werden kann. Wer Neues ankündigt, lässt jede Überraschung scheitern.

Was in logischer Hinsicht jederzeit einleuchtet, muss einem sozialen Sinn nicht unbedingt entsprechen. Jeder kennt das Flaschenpost-Spiel. Man versieht eine Botschaft mit einer Rückadresse und der Aufforderung zur Antwort, steckt sie in eine Flasche und verstöpselt sie wasserdicht. Sie wird ins Meer geworfen und den Zufällen der Strömung überlassen. Eine Antwort ist unwahrscheinlich und trotzdem kann sie, wenn eine kommt, überraschen. Denn: am Anfang war das Wissen um diesen unwahrscheinlichen Zusammenhang und die Bereitschaft zur Geduld. Beides führt dazu, die Flasche nicht nur den Wellen, sondern auch dem Vergessen zu überlassen, was, wegen eines längeren Zeitverzuges auch geschieht, weil andere Dinge, die mehr Aufmerksamkeit verlangen, häufiger vorkommen und größere Wichtigkeit haben. So kann eine Antwort nach 10 Jahren oder mehr trotzdem überraschen. Der Grund ist natürlich der, dass im Fall einer Antwort sofort begriffen wird, dass sie zwar ehedem erwartet wurde, aber nicht auch schon in Aussicht gestellt war. Nur weil eine Antwort kommt, heißt das nicht, das eine kommen musste. Es überrascht dann nicht ein Ereignis aufgrund seiner Unwahrscheinlichkeit, sondern aufgrund der Kontingenz der Information, die einen Wechsel der Perspektive empfiehlt.

Wenn also Überraschungen möglich sind, dann nicht sehr viele. Alle Medieninnovationen zeigen deshalb das charakteristische Merkmal, dass alles Neue in überlieferte Schemata der Deutung einsortiert wird. Die Vielzahl der Versuche und die Anstrenungen, die damit verbunden sind, können einen skeptisch machen. Die Emsigkeit, mit der das geschieht, könnten den Verdacht nahelegen, dass es etwas zu verstecken gelte. Vielleicht ist es so.

Medieninnovationen haben einen Offenbarungscharakter, sie schaffen „Entbergungsereignisse des Seins“ wie Heidegger schrieb. Offenbart wird aber nicht etwas ganz anderes, etwas bis dahin gänzlich Fremdes oder Unbekanntes. Vielmehr sind Medieninnovationen Versuche zur Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Alle Medieninnovationen konfrontieren Bekanntes mit Bekanntem, aber jedesmal auf eine unvorersehbare Weise. Das macht, dass das, was sich dann zeigt, Abscheu erregt oder Empörung und Verachtung. Oder auch nur Gelächter, vielleicht auch beharrliche Ignoranz. Und ganz häufig wird mit jeder Medieninnovation ganz viel Durcheinander gebracht.

Medieninnovationen sich Aufweckungsereignisse.

„Am Anfang wurde das Universum erschaffen. Das machte viele Leute sehr wütend und wurde allenthalben als Schritt in die falsche Richtung angesehen.“ – Douglas Adams, Das Restaurant am Ende des Universums. 1994.

Am Anfang ist deshalb weder die Unschärfe, noch die Verfremdung, noch die Überraschung. Sondern nur die Immunreaktion.

Fortsetzung folgt

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Findet Kommunikation statt? Über soziale und parasoziale Beobachtung 6

zurück / Fortsetzung: Die Differenzierung der modernen Gesellschaft gelang durch einen mutigen und sehr riskanten Verzicht. Um das Vertrauen in das Erkenntnisvermögen von Menschen zu steigern (ab dem 17. und 18. Jahrhundert), um die Beeindruckung über Menschen als Quelle und Träger des Wissens herzustellen (ab dem 18. und 19. Jahrhundert) und um schließlich Menschen zu befähigen ihre Handlungen zu rechtfertigen (ab dem 19. und 20. Jahrhundert), musste der Glaube an eine jenseitige Macht aufgegeben werden, die Gott als Schöpfer der Welt und als Führer des menschlichen Lebens aufgefasst hatte. Und es mussten alle Erwartungen aufgegeben werden, die mit dieser Weltauffassung verknüpft waren: der Glaube an eine unsterbliche Seele und die Erfüllung eines göttlichen Plans. Der ganze Zivilisationsstolz der alten Zeit musste seine Gebrechlichkeit erweisen und sich verzichtbar machen, bevor auf ihn verzichtet und durch einen anderen ersetzt werden konnte.
Diese Ersetzung war kein Prozess des Nacheinanders, sondern ein Prozess der Gleichtzeitigkeit von Vergehen des einen und Werden des anderen. Der Unterschied zwischen der Naturauffassung und dem Verhältns zu Wahrheit bei Galilei im 17. Jahrhundert und bei Einstein im 20. Jahrhundert ist beträchtlich und hat, entgegen den Gewohnheiten der Wissenschaftsgeschichtschreibung, keine Kontinuität.
Ein Verhältnis von Trauma und Mythos hatte sich umgekehrt: im 17. Jahrhundert war der Zivilisationsstolz, der seinen Mythos aus Tradition, Autorität und absoluter Wahrheit bezog, traumatisch, also brüchig und unhaltbar geworden. Darauf reagierte Galilei mit einem Rettungsversuch, der sich auf Wahrheiten der Physik bezog. Wahrheit hieß bei Galilei: absoulte Wahrheit, die sich jetzt auch durch Naturforschung ergeben sollte. Tatsächlich war dieser Rettungssversuch ein Schlussstein für den alten Zivilisationsstolz und zugleich ein Anfangspunkt für einen neuen, der sich seinen eigenen Mythos erschaffte. Beim Einstein-Bild, gemeint ist damit sowohl das Bild der Person als auch eins der Theorie, findet man stattdessen die Ensemblierung aller Elemente, aus denen sich der moderne Zivilisationsstolz zusammensetzt: Der Erkenntnissucher, der sich seiner Not bewusst wird; der Wissenschaftler als Genie, der durch große Leisutng zu beeindrucken vermag und der ethisch Handelnde, der sich über die Ergebnisse seines Tuns irritiert. Und spätestens die Atombombe macht dann deutlich, was vom Mythos des modernen Zivilisationsstolzes noch zu halten ist.

Der Verzicht, der mit der Entwicklung der Gesellschaft gleistet werden musste, wurde also nicht schlagartig erbracht, sondern vollzog sich Etappenweise mit der Durchsetzung der funktionalen Differenzierung, die ihre eigenen Voraussetzungen herstellte, die für jede weitere Generation unverzichtbar wurden. Die ersten Atheisten des 17. Jahrhunderts hatten das sehr ernstzunehmende Problem, dass sie das Herkommen der Welt nicht hätten erklären können, wenn sie einen Schöpfergott leugneten. Wo sollte die Welt herkommen, wenn sich doch empirisch eindeutig zeigt, dass sie kein Mensch gemacht hat? Dieses Frage wurde im Laufe von 200 Jahren mit der Absenkung der Erwartungen auf göttliche Fügung immer einfacher zu beurteilen. Ein Handicap für eine Evolutionstheorie lag beispielsweise darin, dass man lange nicht glauben konnte, dass sich die Formen der Arten ändern können, weil man annahm, dass Gott sie einmal und unveränderlich geschafffen habe. Erst als es im 18. Jahrhundert gelungen war, die Veränderlichkeit zu akzeptieren, ohne einen Gott prinzipiell zu leugnen, war der Weg dafür frei, mit einer Evolutionstheorie anzufangen*. Auf dem Wege konnten dann schließlich alle Vorbehalte gegen einen schlußendlichen Verzicht aufgegeben werden.

So hat die gesellschaftliche Evolution eine Welt zurück gelassen, die den Erben die historischen Bedingungen ihrer Möglichkeit nur schwer begreiflich mach kann:

  • Niemand weiß was es bedeutet, bei Gott um Gnade für die eigene Sündhaftigkeit zu flehen, was auch für diejenigen gilt, die sich selbst ob solchen Verhaltens gegenüber anderen hervortun wollen. Denn wer sich ernste Sorgen um seine Seele macht, würde nicht vorbehaltos in jedes Mikrophon sprechen, das einem hingehalten wird.
  • Darum kennt auch niemand den cartesischen Mut, der gebraucht wurde, um mit Gottes Einverständnis die eigene Verstandesfähigkeit zu erforschen. Es ist kein mutiges Anliegen mehr, seinen Verstand zu gebrauchen. Das gilt auch für diejenigen, die sowas dennoch behaupten. Man erkennt sie daran, dass sie tun, was alle anderen auch tun: Sie schreiben mit Überzeugung auf, wovon sie überzeugt sind und kümmern sich nicht um die Folgenlosigkeit ihres Tuns. Besonders mutig ist diese Indifferenz nicht.
  • Niemand der Lebenden weiß was Leibeigenschaft ist, wenn man sie nicht mehr am eigenen Leib erfahren kann; keiner ist auf Traditionen verpflichtet oder hat Gehorsamspflichten gegenüber einer Autorität. Keiner glaubt an Hexerei und Zauberei, auch die nicht, die es verstehen, daraus ein Geschäft zu machen. Denn diese Art von Dienstleistung funktioniert nach der selben Logik wie jede andere auch. Niemand solcher Zauberkünstler kann Finanzbeamte verhexen.
  • Niemand der Lebenden kann die Gefährdungen der alten Zeit, die sich aus dem Leben ergaben, leicht nachvollziehen: die Hilflosigkeit gegenüber Kranken und Sterbenden; Epidemien, Ernetausfällen und Hungersnöten ausgeliefert zu sein ist etwas. das die Lebenden nur durch umfangreiche Auswertungen von Archivalien begreifen können.
  • Niemand in der Erbengemeinschaft der Gesellschaft weiß wie Menschen erlebt und gefühlt haben, die nicht als Personen behandelt wurden. Eine der wichtigsten sozialen Formen, die uns beinahe selbstverständlich erscheint, ist die Wertschätzung von Individualität. Diese Naivität gilt auch für diejenigen, die unverdrossen von der Entfremdung des Menschen infolge der funktionalen Differenzierung sprechen. Dieser Romantizismus einer heilen Welt von Menschen für Menschen ist eine in Spezialdiskursen gebrechlicher Soziologie standardisierte Fiktion, die aus der Indifferenz gegenüber den Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaft ihre Rechtfertigungsfähigkeit bezieht.

So hat die moderne Gesellschaft im Laufe von 400 Jahren ihres Werdens die Bedingungen geändert, unter denen die Welt verstehbar wird.

Fortsetzung


* Rieppel, Oliver: Unterwegs zum Anfang. Geschichte und Konsequenzen der Evolutionstheorie. [SB 155]

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