Über Populismus, Immunsysteme und das Weinen der Demokratie
Demokratie ist eine populistische Großveranstaltung. Sichtbar wird dies bei jedem Wahlkampf. Wahlkämpfe sind Festivals der Stimmungsmache. Die Musik wird bei diesen Gelegenheiten lauter gedreht um herauszufinden, wer mit wem tanzen will. Wahlkämpfe sind Jahrmärkte, die zum anschließenden Gottesdienstbesuch motivieren. Den Gang ins Wahllokal würde ich jedenfalls so auffassen. Der fromme, politisch informierte und engagierte Bürger, der das Recht erhält, sich auf die Bedeutung seiner individuellen Wahlentscheidung sehr viel einbilden zu dürfen, tritt mit dem Aufsuchen des Wahllokals gleichsam vor einen Richterstuhl, vor dem er demütig sein Haupt neigt, erfüllt von dem Glauben daran, dass er mit seiner Stimmabgabe zugleich eine Verantwortung für das Große und Ganze übernimmt. Was ein eitler Blödsinn ist.
Wahlkämpfe sorgen dafür, ein plausibles Argument außer Funktion zu setzen, welches besagt, dass mit einer Wahlentscheidung, gerade weil es nur eine individuelle sein darf, keine Entscheidung über den Wahlausgang des Kollektivs getroffen wird, und dass trotzdem Wahlen mit großer Beteiligung durchgeführt werden können. Das kann jeden beeindrucken, der gelernt hat, die soziale Welt ob ihrer Curiositas zu schätzen. Durch Wahlkämpfe gelingt es, aus der simplen Tatsache, dass jede Stimme zählt, ein für alle gleichermaßen geltendes Versprechen zu machen, welches besagt, dass jede Stimme besonders viel zählt, ohne zugleich ein fehlendes Maß für diese Differenz zu unterdrücken. Denn egal, ob jede Stimme besonders viel oder besonders wenig zählt, in jedem Fall gilt nur der Grundsatz: 1=1, pro Nase eine Stimme. Wahlkämpfe müssen dafür sorgen, diese nüchterne und sehr sachliche Einsicht abzuweisen, ohne zu verhindern, dass der Wahlausgang nach genau diesem Grundsatz ermittelt wird. Wollte man nach einer Erklärung dafür suchen, weshalb Wahlen überhaupt durchführbar sind, müsste man wohl überlegen, dass eben diese Paradoxie gesellschaftlich behandelt wird: nur, wenn kaum einer bemerkt, dass 1=1 gilt, kann nach diesem Grundsatz ein Wahlausgang ermittelt werden, was wiederum jedem bekannt gemacht wird, ja sogar, dass eine ganze Staatsmacht in Gang gesetzt wird, die die Einhaltung dieses Grundsatzes garantiert. Die Staatsmacht garantiert damit zweierlei zugleich: die strikte Einhaltung dieses Grundsatzes und die Außerkraftsetzung seines persuasiven Gehalts. Das ist irre, kann begeistern und kann zugleich erklärbar machen, weshalb dieser Irrsinn auch auf Ablehnung und Geringschätzung stoßen kann.
Wahlkämpfe und Wahlen sind, das macht sie mit heiligen Handlungen von Priestern vergleichbar, die magische Umwandlung eines bedeutungslosen in einen bedeutungsvollen Grundsatz. Wahlkämpfe und Wahlen sind sich ergänzende Abläufe von abergläubischer und rationaler Praxis.
Aus diesem Grund kommt man mit der Vermutung nicht weiter, die glaubhaft machen will, dass so etwas nur infolge eines großen kollektiven Besäufnisses möglich sei, welches wie ein ideologischer Verblendungszusammenhang die Einsicht in die wahre Wirklichkeit der Verhältnisse verschleiert. Denn es wird ja weder bei Wahlkämpfen noch bei Wahlen, das gilt auch für das Wandlungsgeschehen in der Eucharistie, irgendetwas unterdrückt; es wird gar nichts versteckt, verheimlicht. Es wird nichts der Wahrnehmung und nichts der gesellschaftlichen Kommunikation entzogen, sondern: aufgrund dieser Paradoxie gibt es nicht einfach gleichwertige Möglichkeiten der Kommunikabilität von Evidenz, Sachlichkeit und Plausibilität, weil keine Gleichgültigkeit entsteht. Es gibt aufgrund dieser Paradoxie keine beliebig-symmetrisch Ordnungsfähigkeit von Betrachtungsweisen. Ein Wahlkampf ist so etwas wie ein Festival, das zu Abgabe eines Wetteinsatzes motiviert. Die Verkündigung des Wahlausgangs entspricht der Ausschüttung der Gewinne. Und beides zusammen sind sich gegenseitig entschuldigende Vorgänge: Wahlkämpfe machen den politischen Betrug statthaft, damit Wahlen durchgeführt können. Und Wahlen verbieten jeden Betrug, damit Wahlkämpfe wieder anfangen können.
Wenn man auf diese Weise das Gelingen von Demokratie auffassen kann, dann kommt man zu einer anderen Betrachtungsweise darüber, was man von diesem Populismus halten kann.
Gefällt mir:
Like Wird geladen …