Das Dogo-Problem der empirischen Sozialforschung
Für die empirische Sozialforschung gilt eisern und unverdrossen, dass soziale Realität als objektiver Bestand einer Summe von sozialen Tatsachen aufgefasst wird, die von dem Forscher trotz seines subjektiven, also selektiven Realitätszuganges erfasst, ermittelt und so objektiv wie möglich bewertet werden soll. Selbstverständlich weiß die Forschung um die Unvollständigkeit aller subjektiven Bewertung, aber das führt nicht dazu, die Einsicht in das Unmögliche zuzugeben. Stattdessen wird die Kontingenz dieses Zusammenhangs fortaufend problematisiert.
Es wird also nicht die Möglichkeit einer fehlenden Differenz zwischen subjektiver und objektiver Realität zugestanden, sondern es wird versucht, eine behauptete Differenz zu minimieren, sich also irgendwie der objektiven Realität durch kontrollierte Differenzierung der Urteils anzunähern, wissend, dass dies nicht nur unmöglich ist, sondern, dass die epistemologischen Konsequenzen es eigentlich gar nicht zulassen, dieses „Objektivitätsideal“, das zugleich ein „Subjektivitätsideal“ ist, durchzuhalten. Das gilt liegt daran, dass man eine Differenz nicht dadurch minimieren kann, dass man sie kontrolliert erweitert. Die Paradoxie macht das unmöglich und zugleich macht sie möglich, dass alles nach dem bekannten dualistischen Beobachtungsschema von Subjekt und Objekt weiter geht. Das heißt, dass die Forschung über ihren Gegenstand recht wenig, über ihre Forschungsmethoden aber sehr viel weiß. Eine Differenz zwischen der objektiven Wirklichkeit und des subjektiven Wissens wird ständig vergrößert, ablesbar an der unüberschaubaren Publikationssituation.
An diesem Knochen nagen empirische Sozialforscher ohne Unterlass (1). Für sie ist diese Paradoxie eine gleichermaßen objektive, also unhintergehbare, Instanz und gleichzeitig eine subjektive, die gerade weil sie auch subjektiv ist, auf Irrtum, mangelnde Nachdenklichkeit oder sonstiges Unvermögen von Menschen als Ursprung zugerechnet werden kann, woraus sich für die empirische Forschung keinesfalls ergibt, diesen Subjekt-Objekt-Dualismus fallen zu lassen und ihn durch die Selektivität von sozialen Systeme zu ersetzen, die sich gegenseitig zur Umwelt haben.
Selbstverständlich sind in der empirischen Forschung beinahe alle handlungs- und erkenntnistheoretischen Problemfälle, die sich aus der Forschung selbst ergeben, bekannt. Aber die Forschungspraxis soll darauf mit Vermeidung dieser Probleme durch methodische Kontrollverfahren reagieren.
Ein handlungstheoretisches Problem, das zwar irgendwie bekannt, aber nur selten komplexer behandelt wird, bezieht sich auf das sog. „Dogo-Problem“. Diese Bezeichnung stammt von dem Ethnologen Wolfgang Teuscher, der als Feldforscher in Afrika tätig war und bereits 1959 (2) darauf aufmerksam gemacht hatte, dass der Forscher aufgrund seiner Anwesenheit im Forschungsfeld immer auch für das Forschungsfeld (gemeint sind damit andere Menschen) als jemand beobachtbar wird, der als Fremder, als Unkundiger, als Wissbegieriger anwesend ist und damit Rollenerwartungen aufwirft, welche die Adressablilität von Aukünften aller Art steuern. Gerade weil der Forscher als jemand in Erscheinung tritt, der Fragen stellt um etwas zu wissen, das man ihm unter anderen Umständen nicht verschweigen würde, kann man ihm gerade deswegen Bestimmtes verschweigen.
Das Wort Dogo stammt aus einer afrikanischen Sprache, in der es soviel bedeutet wie Verheimlichung, Geheimnis, also irgendetwas, dass der Kommunikabilität durch Auskunftsverweigerung entzogen werden soll.
Auch hier kennt die empirische Sozialforschung die paradoxe Problemsituation sehr genau. Gerade weil der Forscher etwas wissen will und folglich als Neugieriger in Erscheinung tritt, kann ihm gerade deswegen die Auskunft verweigert werden, also ein Problem, das der Forscher nicht hätte, hätte er nicht mit der Forschung angefangen. Das zeigt: das Problem ergibt sich aus dem Prozess der Forschung selbst und nicht etwa aus einer unabhängigen, objektiven Realität. Die Forschung als soziale Tatsache hat überhaupt gar keine objektive Realität, sie hat nicht einmal ein subjektive, weil die Handlung des Forschers, so sehr subjektive Intentionen auch immer eine Rolle spielen mögen, eben keine kausalen Notwendigkeiten nach sich zieht, sondern in ihrer Kontingenz immer schon auf entfaltete soziale Kontingenzen trifft. Es geht also um eine Verhältnis, das nicht durch subjektive oder objektive Kriterien hergestellt wird, sondern durch die Selektivität der alternierenden Beobachtung.
So verweist das Dogo-Problem auf eine bestimmte Form sozial erzeugter Inkommunikabilität, die auf eine spezifische Situation des wechselseitigen Informiertseins verweist. Die Beteiligten sind mindestens durch Anwesenheit über einander informiert und dadurch, dass damit Rollenerwartungen aufgeworfen, die durch Anwesenheit immer leicht bestätigt werden und folglich strukturbildend den Beobachtungsprozess steuern.
Will eine empirische Sozialforschung nun anfangen, sich auf Interaktion zwischen Abwesenden einzulassen, dann dürfte das „Dogo-Problem“ etwas aufdringlicher in Erscheinung treten, weil mit der Interaktion zwischen Abwesenden eine Situation geschaffen wird, die es nicht mehr zulässt, dass die Beteiligten sich auf Erwartungen verlassen können, die sich aus Strukturen der Adressabilität ergeben.
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(1) Fuhse, Jan Arendt: Soziale Netzwerke. Konzepte und Forschungsmethoden. Konstanz und München 2016. Es handelt sich dabei um ein Lehrbuch, das noch einmal die Methoden der empirischen Sozialforschung zusammenfasst und dabei ganz unverdrossen die erkenntnis- und handlungstheoretischen Einwände gegen diese Forschung, die von der Ethnologie und der Soziologie reichhaltig zusammengetragen wurden, verschweigt.
(2) Teuscher, W.: Die Einbeziehung des Forschers in die Untersuchungsgruppe durch Status- und Rollenzuweisung als Problem der empirischen Forschung. In: KZfSS, Jg. 11 (1959), S. 250 – 256.