Differentia

Der Lügner ist ein mächtiger Beschützer der Gläubigen 2/2

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Die technische Sphäre des Internet erzeugt ein neues Beobachtungsschema, mit dem man nacherher erkennen kann, was man vorher nicht erkennen konnte. Bild: Wikipedia

Und trotzdem macht man immer wieder die selbe Erfahrung: es geht eben doch, sobald eben nur ein Feld von Möglichkeiten der Problemformulierung gefunden wird, das dieser Lösung zugeordnet werden kann.

Solange also ein Problem auf sich warten lässt, bleibt Second Life wohl nur eine kommerzielle Kuriosität. Wer aber im philosophischen Nachdenken einigermaßen trainiert ist weiß, dass eine Wahrheit nichts anderes ist, als ein unentdeckter Irrtum. Es ist die Immersionserfahrung, die die Karten neu sortieren wird, weil die technische Apparatur auch in diesem Fall das leisten wird, was Technik für die „faustische Seele“ (Oswald Spengler) überhaupt leistet, nämlich externalisierte Möglichkeiten der Selbsterfahrung zu transzendieren.

Gemäß dieser Überlegung ergibt sich, dass Technik nicht eigentlich eine Prothesenfunktion hat, derzufoge der technische Apparat die Unvollkommenheit des menschlichen Natur kompensiert. Es ist genau umgekehrt. Die zivilisatorische Leistung der Technik ist eine Form der sozialen Sanktionierung, die zunächst als Zumutung, als Behinderung und Leistungseinschränkung, als Unterforderung entsteht. Technik als Objektivum wird als etwas verstanden, das im Wege steht. Und nur über diesen Umweg erzeugen technische Vorkehrungen im Laufe ihrer Evolution neue Beobachtungsschemata, die durch soziale Sublimierungsprozesse aus einer Beschränkungs- und Demütigungserfahrung einen Erkenntnisfortschritt ermöglichen. Man kann dann etwas sehen, dass so noch nicht gesehen wurde.

Der technische Apparat erzeugt damit Einsicht in eine überlieferte Problemsituation, die durch die Strukturen dieser Problembildung nicht erkannt wurden. Technik erzwingt Kontingenz. Im Falle der Produktion virtueller Welten, die gewiss das Arbeitsprogramm des 21. Jahrhunderts sein wird, stellt sich das Erkenntnisproblem noch einmal, aber – wie gesagt – unter veränderten Bedingungen, die sich jede Transzendenzfindung gefallen lassen muss, indem „Leben“ nämlich nur als „virtuelles Leben“ verstanden werden kann. Diese Formulierung ist eine maskierte Paradoxie, da sie den Gegensatz von „virtuell“ und „physisch“ neu zu entfalten hilft. Damit ist dann auch gesagt, dass die überlieferte Problemsituation aus einer funktional-differenzierten Gesellschaft dadurch gelöst wird, dass sie in eine doppelte Problemstruktur überführt wird. Man löst die überlieferten Probleme dadurch, dass man erstens lernt, sie sich gefallen zu lassen und man dann zweitens kaum noch verstehen kann, wie es ohne diese Akzeptanz früher gehen konnte.

Zu lernen, ein Doppelleben zu führen, wäre damit der soziale Sublimationseffekt, von dem hier gesprochen wird.

Der Lügner ist ein mächtiger Beschützer der Gläubigen Teil 1/2

Es ist kein literaturgeschichtlicher Zufall, dass mit der Entstehung einer Moral des Zusammenlebens in einer funktional-differenzierten Gesellschaft in vielen Romanen das Phänomen eines Doppellebens und einer Doppelmoral erzählt wird. Und wie wenig diese Art des Erzählens in Vergessenheit geraten ist zeigt der vor wenigen Monaten erschienene Roman des Autors Charles Lewinsky, ein Autor, der zum x-ten Mal eine Doppelmoral beschreibt, in diesem Fall die Schweizer Ausländerpolitik. Und niemand ist ein Prophet, der glaubt, dass solche literarischen Betrachtungen weiterhin interessant bleiben werden, da die Einsicht, dass die Zumutung der Moral immer nur als Doppelmoral zu bekommen ist, noch etwas auf sich warten lässt. Womit gesagt sei, dass es noch lange dauern wird, bis man in dieser Hinsicht aus Erfahrung klug wird. Es handelt sich dabei um eine Erfahrung, die besagt, dass eine legitime Moral immer nur als doppelte Moral zu bekommen ist. Die moderne Moral als „skandalon“, als Beobachtung des Anstoß erregenden Verhaltens wird, wie so manch andere liebgewonnene Angewohnheit auch, nicht einfach verschwinden, weil die Anstößigkeit des Verhaltens anderer die Beobachtungsverhältnisse sehr gut affimieren. Man bleibt subjektzentriert solange es nur irgendwie geht. Der Lügner ist ein mächtiger Beschützer der Gläubigen.Insofern gewinnt man mit einem Besuch bei Second Life den Eindruck einer kindlichen Keuschheit, mit der die Avatare dort durch die Gegend stolpern, weil sich nur schwer Verbindlichkeiten einstellen können, wenn man diesen virtuellen Raum durchquert. Und man kann, trotz der Immersionsferfahrung, bemerken, mit welcher affektiven Distanz die Avatare aufeinander treffen. Mit billigen und ungenierten Anmache kommt man dort nicht durch. Hat man die ersten Tutorials gemeistert, gibt es eigentlich nicht mehr viel, was dann noch von aufmerksamkeitsstimulierender Bedeutung wäre. Kurz: es handelt sich um eine geniale Erfindung, die die Welt nicht braucht, jedenfalls ist bis auf absehbare Zeit noch kein Problem zu finden, für das Second Life eine Lösung wäre. Damit könnte man das Thema achselzuckend beiseite legen.

Aber damit wiederholt sich nur die Erfahrung, die die moderne Gesellschaft immer wieder machte, wenn revolutionäre Erfindungen zustande kamen: der Kinematograph war zuerst nur eine Rummelplatzattraktion, deren Sensationswert mit einer Geisterbahnfahrt nicht konkurrieren konnte; Radio, Fernsehen, Auto, Telefon unterlagen dem selben Problem der doppelten Kontingenzerfahrung: wer soll ein Telefon benutzen, wenn man mit niemandem telefonieren kann; wer soll Radiosendungen bringen, wenn keiner Radio hört? Wo hätte man autofahren können? Nicht viel anders erging es dem Internet als man sich fragen musste, wozu das eigentlich gut ist. Als vernetztes Ablage- und Aufrufverfahren für wissenschaftliche Dokumente hatte das Internet angefangen und selbst dann noch war die technikintensive Verfahrensweise so kompliziert, das die alte Schneckenpost noch immer den Vorzug hatte.

Fortsetzung