Das Internet ist hauptsächlich überflüssig

Die Gutenberg-Bibel, Bild: Wikipedia

Ein ausführliche und hübsche Analyse, die sich mit den Entwicklungschancen des Internets beschäftigt, findet man im Blog www.digitalpublic.de von Jörg Wittkewitz, welche zu lesen zwar etwas Geduld erfordert, aber immerhin einen sehr interessanten Einblick in Beobachtungsroutinen liefert, die sich schwer damit tun, sich einer Selbstprüfung zu unterziehen. Die Analyse von Wittkewitz ist von einer gewissen Skepsis geprägt. Weder sei durch das Internet eine neue Normierung intellektueller Standards beobachtbar, die sich im Lauf der Evolution des Buchdrucks eingespielt haben, noch könne man an genuinen Phänomenen des Internets wie etwa Wikipedia und anderen Projekten erkennen, welche Art der Verbesserung eigentlich genau zu beobachten wäre. Im ganzen fehle es an einem großen Wurf – so würde ich seine Ausführungen interpretieren – der deutlich machen könnte, wohin die Reise denn gehen könnte, wenn man sich hoffnungsfroh auf die Entwicklung einlassen möchte. Er schließt seine Analyse mit der Einschätzung: „Diese Aufgabe eines Denkmodells fehlt noch immer – sowohl bei den Adepten des Web wie bei den Bedenkenträgern. So verbleibt der intellektuelle Diskurs zum Thema soziale Struktur Web in einem Sammelsurium aus Kennst-Du-noch-nicht und darauf aufbauenden Tastbewegungen der Selbstvergewisserung. Macht wenig Zuversicht.“

Abgesehen von der Ablehnung einer Zuversicht würde ich dieser Analyse zustimmen. Mir scheint aber, dass das Phänomen, das Wittkewitz beschreibt, erst dann an Relevanz gewinnt, wenn man Differenzen von Hoffnung und Skepsis einmal beiseite läßt. Man ist ja nicht automatisch ein Optimist, wenn man jeden Pessimismus ablehnt. Gleiches gilt gewiss auch andersherum.

Schon am Beispiel Wikipedia zeigt sich eigentlich, dass es nicht genügt, den Mangel einer zündenden Revolution zu bemerken, wenn man zutreffend feststellt, dass die bei Wikipedia üblichen Produktionsroutinen sich kaum von denen unterscheiden, die man auch schon vorher kannte und praktizierte. Wie sollte es denn auch anders gehen?

Wagen wir einen Vergleich: Was hätte Johannes Gutenberg drucken sollen, nachdem er sein Verfielfältigungsverfahren erprobt hatte? Wer hätte Bücher lesen sollen? Und wie bringt man in Erfahrung, welche gedruckten Bücher geliefert werden können, wenn nicht aus Büchern? Die Erfindung des Buchdrucks geschah unter denkbar schlechten Voraussetzungen, die, wenn man den Vergleich weiter treiben wollte, in der frühen Römischen Kaiserzeit sehr viel besser entwickelt waren. Insbesondere gab es zu dieser Zeit bereits einen entwickelten Markt für Literatur; es gab Schreibstuben, in denen Schriften auf Vorrat kopiert wurden; es gab eine einheitliche Sprache, ein einheitliches Recht, eine hochkomplexe Staatsverwaltung, Schulen, weitreichende Handelsnetze, urbane Strukturen und dergleichen mehr. Ein Wunder eigentlich, dass in der Spätantike der Buchdruck nicht erfunden wurde. Als er aber im späten Mittelalter erfunden war, druckte Gutenberg das, was ohnehin bereits geschrieben stand: die Bibel. Wobei er sorgfältig darauf achtete, dass das gedruckte Exemplar der Form nach als Verbesserung einer handschriflichen Kopie in Erscheinung trat. Daraus kann man folgern, dass die Revolution nicht durch den Buchdruck entstand,  sondern, dass sich der Buchdruck selbst als Ergebnis eines Evolutionsprozesses herausstellte und zunächst überflüssig war.

Nimmt man diesen Vergleich ernst, dürfte man etwas ähnliches auch für die Entwicklung des Internets annehmen. Nicht das Internet bewirkt eine Revolution, sondern es ist selbst das Ergebnis eines evolutionären Trivialisierungsprozesses, der neue Formbildungen wahrscheinlich macht.
Was sich spätestens seit der Industrialisierung trivialisiert ist das, was Oswald Spengler die „faustische Seele“ nannte. Gemeint ist damit ein kultureller Habitus einer spezifischen Wissensproduktion, der unbegrenzbares Weltverstehen kritisch handhabbar macht. Spätestens der Atombombe und der Mondfahrt war dieser Trivialisierungsprozess abgeschlossen. Insofern könnte man Spenglers These vom „Untergang des Abendlandes“ sehr wohl ernst nehmen, war sie doch keineswegs in der Weise pessimistisch formuliert wie ihr affektiv unterstellt wurde, weil jeder Zerfallsprozess einhergeht mit Selektionen, die Neukombinationen ausprobieren, ohne gleichwohl angeben zu können, welche Formen sich bewähren und welche nicht. Es wäre natürlich angebracht, diesen Vergleich gründlicher zu analysieren als es hier geschehen kann. Deshalb sei zur Verkürzung auf Mittel der Abstraktion gewählt, um die Aufmerksamkeit begrenzbar zu strapazieren.

Mit der evolutionären Ausbildung funktional-differenzierter Sozialsysteme werden anders geartete Beobachtungsschemata erzeugt, die unter solchermaßen veränderten Ausgangsbedingungen zweierlei Verweisungswege aufscheinen lassen. Nämlich erstens die Fortsetzung gescheiterter Formen. Das zeigt sich besonders am Beispiel Wikipedia. Das im 19. Jahrundert gescheiterte Projket einer Universalenzyklopädie mitsamt ihrer gescheiterten Theoriekonstruktion wie die des Positismus wird jetzt, wo nahezu unbegrenzt viel Speicherplatz und Manpower zur Verfügung steht, wieder aufgegriffen. Wikipedia ist der Ausdruck einer Verlegenheit, in der bereits Gutenberg steckte. Ein zweiter Verweisungsweg ist die Explosion von Einschätzungsbemühungen, die als Zukunftoptimismus und Skepsis  in Erscheinung treten. Beide Affekte erscheinen aber als selbstreferenzielle Systemstrategien einer notwendigen Affirmation der Verhältnisse, unter denen es nur schwer gelingt, die erfolgreichen Anpassungsstrategien zu ändern, welche ihrerseits die Umweltbedingungen in der Weise geändert haben, dass alle Anpassung auf Anpassung selbstverstärkende Prozesse der Abweichung wahrscheinlich macht. Die Repressionsmaßnahmen der Musikindustrie gegen die Internetpiraterie sind moderne Ketzerprozesse. Da man nicht weiter weiß – woher sollte man auch wissen, wie – versuchen die Systeme ihre vermeintlich bewährten Programme mit verstärktem Kräfteeinsatz durchzuhalten. Interessant übrigens sind in diesem Zusammenhang die internen Diskussionen der Piratenpartei. Verfolgt man die in entsprechenden Mailinglisten, wird man feststellen, mit welcher Mühe dort etwas anderes als die erprobten Entscheidungs- und Verfahrensweisen von Parteigremien erfahrbar gemacht werden kann. Die Ketzer sind ihren Inquisitoren ähnlicher als sie es wünschen.

Wittkewitz hat Recht. Es fehlt ein Denkmodell, wie er schreibt; wie ich sagen würde: ein Unterscheidungsverfahren, das uns ein längst geändertes Beobachtungsschema plausibel macht. Und ich werde mich kaum irren in der Vermutung, dass sich entsprechende Systemstrategien nur unter den Beobachtungsbedingungen ausbilden können, unter denen sie sich bereits verändert haben. Aber um in dieser Hinsicht weiter zu kommen, müsste man das Beobachtungsschema einer Selbstprüfung unterziehen.

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