Differentia

Kann man den Willen des Gehirns manipulieren?

Die Trivialisierung des Beobachtungsschemas, das sich aus der Beurteilung massenmedial verbreiteter Dokumente ergibt, macht es eigentlich unmöglich, Kuriositäten merkwürdig zu finden. Man könnte doch annehmen, dass eine Form der Beschreibung sozialer Sachverhalte, die Polykontextualität in Rechnung stellt, laufend Irritationen über die Verschiedenartigkeit entsprechender Differenzen in entsprechenden Kontexten generiert. Das Gegenteil ist der Fall. In dem Augenblick, in dem man erwartet, sich über fast alles wundern zu können, findet man kaum noch etwas, das noch bemerkenswert wäre.
Das gilt ganz besonders für diesen Blogartikel einer Karriereberatung, in welchem ernsthaft darüber spekuliert wird, ob der Glaube an den „Freien Willen“ die Arbeitsproduktivität steigern könnte. Mit Verweis auf entsprechende amerikanische Studien, die so etwas untersuchten, wird mittels eines trivialskeptischen Einwands die methodische Kontrollierbarkeit solcher empirischen Untersuchungen mit dem rhetorischen Kniff der Relativierung in Frage gestellt. Man könne trefflich darüber streiten, heißt es in dem Artikel, ob man die Ergebnisse solcher Studien als seriöse philosophische Betrachtungen anerkennen wolle oder ob es sich lediglich um „geschickte Manipulation“ handelte.
Wenig unkurios sind solche Statements ja gerade hinsichtlich ihrer fremdreferenziellen Vergleichbarkeit, die alle Selbstreferenz verschleiert. Welches Problem hätte denn ein freier Wille mit Manipulationsversuchen? Vielleicht das selbe wie ein unfreier Wille? Der freie Wille bemerkt Manipulation, aber verhält sich, weil für ihn durchschaubar, notwendig indifferent. Der andere bemerkt sie nicht und verhält sich genauso indifferent, weil für ihn prinzipiell ohnehin undurchschaubar.
Ob das alles davon abhängig ist, was man glauben möchte?

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Das Dokument – Rückblick auf eine Form. Teil 3

Der „Volksempfänger“. Die Verbreitung des Radios in den 30er Jahren. Sinnbild für den Manipulationsverdacht. Bild: Wikipedia

vorhergehende Folge
Im Zuge der Evolution einer Gesellschaft, die lernte, sich mittels Dokumenten – Texte, Bilder, Filme, Objekte aller Art – zu beschreiben, wurden dieselben zu Zentralinstanzen der sozialen Irritierbarkeit. Aber bereits mit der Herausbildung der Sendeformate von Radio und Fernsehen, genau genommen müsste man mit der Erfindung des Lautsprechers beginnen, geschah etwas entscheidend anderes, das nicht bemerkt werden konnte, weil diese Formate nach Maßgabe eines Beobachtungsschemas, wie es durch Massenverbreitungsmedien erzeugt wurde, beurteilt wurden, die eine spezifische Kontingenz dieser Formen nicht mitreflektierten. Durch das Beobachtungsschema dokumentiert/nicht-dokumentiert wird nur die Möglichkeit eingeschlossenen, dass man alles, was man nachweisen kann, auch anders nachweisen, beziehungsweise durch Nachweis widerlegen kann. Entsprechend explodierte eine Komplexität von Formen und Funktionen von Systemstrategien, die man beispielsweise in Genre-Klassifizierungen ablesen kann; aber auch die Ausdifferenzierung von wissenschaftlichen Fächern und Forschungsrichtungen, die sich mit der Betreuung entsprechender Differenzen beauftragt wiederfanden, zeigte, welch enorme Produktivität das massenmedial verbreitete Dokument entfalten konnte.
Es bildeten sich nach Maßgabe der Differenz von dokumentiert/nicht-dokumentiert ein soziales Programm heraus, das für seine Folgewirkungen kein Anknüpfungspunkte bot. Dabei handelt es sich um die Unterscheidung von Realität und Fiktion. Nach Maßgabe dieses Beobachtungsschema wird Fiktion verstanden als kontingent und selbstreferentiell dokumentierbare Nichtdokumentierbarkeit und Realität als dokumentierbare und nichtkontingent nachweisbare Fremdreferenz. Dass dieses Unterscheidungsprogamm auch dann noch durchgehalten wurde, als die technischen Verfertigungs- und Manipulationsmöglichkeiten immer effizienter und kostengünstiger wurden, zeigt, was durch dieses Beobachtungsschema ausgeschlossen wurde, nämlich: die Manipulierbarkeit. Selbstverständlich hat es nicht an Versuchen gefehlt, diesen Aspekt in die Beurteilung einfließen zu lassen, aber die Tenazität von Systemen zeigt sich gerade dort, wo sie sich trotz der Durchschaubarkeit ihrer Strategien durchzusetzen vermögen, weil sowohl alles, was dem Manipulationsverdacht unterzogen wurde als auch alles, was Manipulationsmethoden erklärte, sich dem selben Beobachtungsschema unterwerfen musste, welches Manipluierbarkeit durch Ausschließung einschloss.
Bis zum heutigen Tag gibt es kaum eine Alternative zur Unterscheidung von Realität und Fiktion. Die Beobachtung von Manipulation unterliegt immer noch Strategien der Skandalisierung, die ihren affimativen Charakter gerade dadurch offenbaren, dass sie den Gegenstand der Beobachung durch ihre je spezifischen Operationen reproduzieren. Interessant wäre in diesem Zusammenhang darauf zu achten, wie sich Forderungen nach Authentizität radikalisieren, weil ja gerade in der Übertreibung ablesbar wird, was sich über kurz oder lang als unhaltbar erweisen wird. Je mehr Kraftanstrengungen unternommen werden, zu retten, was nicht zu retten ist, um so unglaubwürdiger wird, was auf diese Weise glaubhaft gemacht werden soll.

Fortsetzung folgt

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