Wie entwickeln sich virtuelle Welten?
von Kusanowsky
Ein Beitrag zum Blog-Carnival bei WissensWert
Immer, wenn sich irreversible Entwicklungen ankündigen wird die Frage interessant, wie das alles weitergehen mag. Bei einer solchen Fragerunde wie bei der des Blog-Carnival handelt es sich aber weniger um einen Vohersagewettbewerb. Vielmehr geht es darum, Einschätzungen und Meinungen zu vergleichend zusammenzutragen, um einerseits Marktbeobachtung zu betreiben, die dem Zweck dient, entsprechende Orientierungen zu ermöglichen, andererseits geht es aber auch darum, Irritationen über ungenutzte Beurteilungspotenziale zuzulasssen. Aufgrund der Prophezeihungsparadoxie, die besagt, das nichts so verlässlich vorhersehbar ist wie die Unvorhersehbarkeit der Zukunft, kann man es sich praktisch nicht leisten, auch auf Spinnereien zu verzichten. Wenigstens käme es darauf an, entsprechenden Sortierungsversuchen nicht allzu feste Bandagen anzulegen.
Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert haben sich solche Einschätzungsroutinen eingespielt. Leicht neigt man dazu, viele vergangene Zukunftsvisionen als abwegig und skurril beiseite zu legen, weil man sich der Urteilskompetenz eines nachgeborenen Besserwissers sicher wähnt. Tatsächlich aber ist solche Besserwisserei gar nicht gut geeignet, die Nachdenklichkeit anzuregen, weil wir ja nicht nur gelernt haben, über die Zukunft nachzudenken, sondern auch darüber, wie die Zukunft in der Vergangenheit eingeschätzt wurde. Wer einen Rückblick auf die Zukunftsvisionen von gestern werfen will, findet bei Retrofuturismus eine hübsche Sammlung an Material.

Die Reise zum Mond (Originaltitel: Le Voyage dans la Lune) ist ein Science-Fiction-Film des französischen Filmpioniers Georges Méliès aus dem Jahr 1902. Bild: Wikipedia
Insofern scheint manches dann doch relativierbar zu sein. Auch sollte man sich nicht übermäßig über die gegenteilige Beobachtung wundern müssen, wenn man etwa Einschätzungen findet, deren prophetischer Gehalt verblüffend ins Auge springen möchte.
Zitiert sei in diesem Zusammenhang ein Passage aus den Essays zur Kunst von Paul Valéry, in welchen er über zukünftige Möglichkeiten der Kunstproduktion spekuliert: „Die Werke werden zu einer Art von Allgegenwärtigkeit gelangen. Auf unseren Anruf hin werden die Werke überall und zu jeder Zeit gehorsam gegenwärtig sein oder sich neu herstellen. Sie werden nicht mehr nur in sich selber da sein – sie alle werden dort sein, wo ein jemand ist und geeignetes Gerät. […] Wir werden es vollkommen natürlich finden, […] jene sehr geschwinden Wechselbilder und auch Schwingungen zu bekommen oder in Empfang zu nehmen, aus denen unsere Sinnesorgane […] alles machen, was wir wissen. Ich weiß nicht, ob je ein Philosoph in seinen Träumen sich eine ‚Gesellschaft zur Lieferung sinnlich erfahrbarer Wirklichkeit frei Haus‘ ausgedacht hat.” (zitiert nach: Paul Valéry: “Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit”. In: Über Kunst, Frankfurt a. M. 1973, S. 47. Der Text „La conquête de l’ubiquité“ ist 1928 zum ersten Mal erschienen.)
Wer wollte nicht glauben, dass hier der Cyberspace in groben Strichen vorwegnehmend skizziert wurde?
Werden viele Vorhersagen gemacht, so wird auch das eine oder andere davon zutreffen. Gewiss. Aber so leicht sollte man es sich damit auch nun wieder nicht machen. Denn spätestens mit einer Reflexion über die Methoden der technischen Reproduktion von Dokumenten aller Art müssen sich auch Überlegungen einspielen, die entscheidende Unterschiede in der Entwicklung benennen können. Das gilt nicht nur für Methoden der industriellen Produktion, deren Ergebnisse für uns alltäglich geworden sind. Wie erklären wir die entscheidenden Unterschiede, die durch das Internet möglich werden? Wohl reicht es kaum aus, das Internet lediglich als elektronisch gestütztes Verbreitungsmedium zu apostrophieren. Der wesentliche Unterschied ist ein anderer.
Die alten Verbreitungsmedien Buchdruck, Zentralperspektive und Massenmedien zeichneten sich aus durch die Reproduktion sich selbstgleicher „Dokumente“: durch Schriften werden nur weitere Schriften, durch Bilder nur weitere Bilder hergestellt, während es beim Internet darum zu gehen scheint, das Dokument in einer Abfolge räumlich ungebundener Zugriffe permanent zu verändern. Es wird versucht, Dokumente mit immer mehr Eigenintelligenz auszustatten, sodass sie jenseits vom sozialstrukturierten Lärm autonom agieren können. Hinzu kommt, dass die Dokumentenverarbeitung einer dauerprozessierenden technischen Sphäre zu überlassen wird. Um den Unterschied zur Reproduzierbarkeit der „Dokumente“ alter Verbreitungsmedien zu markieren, könnte man die fluktuierenden, selbstintelligenten und dauerprozessierten Formate des Internets „Performate“ nennen wie sie in ihrer eindrücklichsten Gestalt bei Second Life zu finden sind und worüber Paul Valéry bereits spekuliert zu haben schien.
Entscheidend ist, dass es beim Internet gerade nicht nur um Informationsverarbeitung geht, sondern um Performanz. Wer das Internet lediglich als „Docuverse“ versteht, also als universale Bibliothek, in der alle Dokumente miteinander vernetzt sind, unterliegt womöglich einem an der Buchkultur orientierten Trugschluss. Geht man dagegen von Performanz aus, kann man erkennnen, wie Gesellschaftsordnungen und Medienformate korrelieren: stratifizierte Gesellschaften arbeiten an Monumenten, funktional differenzierte Gesellschaften an Dokumenten und virtuelle Gesellschaften schließlich an Performaten. Eine virtuelle Gesellschaft wäre gleichsam die Adresse für einen Orwellschen Beobachter, der nur über Terminals erreichbar ist, und durch welchen die Systeme unausgesetzt ihre eigene Nichtidentität kommunizieren.
Die Leistung der klassischen Verbreitungsmedien bestand darin, Dokumente unabhängig vom Zugriff durch Personen archivieren, reproduzieren und distribuieren zu können. Die Zentralperspektive stellte den Betrachter genau an den Punkt, von dem aus alle dasselbe Bild sahen. Der Buchdruck schließlich befreite die angekettete Handschrift und ermöglichte es allen gleichzeitig und überall dasselbe zu lesen. Die Massenmedien versammelten ein Publikum um ein- und dasselbe Dokument. Es lässt sich in einer kurzen Skizze nachzeichen, wie sich diese alte „Ordnung der Dinge“ (Foucault) im Zivilisationsprozess auflöst. Bereits im Barock werden mehrere Bildpunkte in einem einzigen Bild zur Geltung gebracht. Mit der Erfindung der Fotografie verschwindet der Charakter der Einzigartigkeit des Bildes. Der Film versetzt das Bild insgesamt in Bewegung. Das Telefon etabliert globale Interaktionsstrukturen. Mobiltelefon und GPS machen den Betrachter mobil.
Das alles spielt sich im Rahmen eines Zerfallsprozesses der klassischen Medien ab. Die neue Leistung des Internets ist aber nun die Ausstattung der Dokumente mit Eigenintelligenz. Wie vorher das Dokument vom Körper abgelöst wurde, so löst das Internet das Dokument aus seiner Festgeschriebenheit heraus und eliminiert seine Sichselbstgleichheit. Die Internetdokumente können ihre Zustände selbständig ändern und selbständig mit anderen Dokumenten konferieren. Auf diese Weise entwickelt sich eine unabhängige intelligible Sphäre, in die sich Gehirne je nach Laune, Vermögen und Zugangsberechtigung ein- und ausklinken können.
Für eine weiterführende theoretische Betrachtung ergibt sich die Überlegung, dass alle ihre so entstehenden Elaborate sich selbstreferenziell in Netzwerken bewegen können müssten, weil sie sich nur so mit einer Eigenintelligenz anreichern können. Sie müssten selbständig in Netzwerken adressibel werden können. In diesem Sinne wäre eine theoretische Heransgehensweise mit ihrer Praxis identisch, was den dämonischen Verkehrsraum tendenziell intelligibler Dokumente in ihrer angespannten Symbiose mit gleichermassen lokalen, also ort- und körpergebundenen wie multiplen, also standort- und zustandswechselnden Personen gestaltet. Die sich daraus ergebende Lage aller Komplikationen wird überdies nur durch Weiterverwendung von solchen Performaten lösbar sein, die solche Probleme erzeugen. Entsprechend werden wir uns von Illusionen der Steuerbarkeit, Urheberschaft und Identität verabschieden, um diesen Entwicklungen gewachsen zu sein.
[…] Kusanowsky schreibt auf Differentia über neue Formate im 3D-Internet. Mit den Performaten nimmt er Bezug auf Performanz und Kunst im […]
[…] Medialität, Medientheorie, Medium, Technik von Kusanowsky Überlegungen und Spekulationen über Digitalisierung und Virtualisierung hängen auf das Engste mit Fragen zusammen, die sich um ein theoretisch höher auflösbares […]
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So erleben wir also, wie sukzessive Zeit und Raum in Technologie aufgelöst wird… wie die Grenzen von „Realität®“ verschwimmen, indem wir mehr und mehr Technologien implementieren, die es erlauben virtuelle Welten in Wirklichkeit und Wirklichkeit in virtuelle Welten umzukremepeln…
Bahnbrechende Innovationen (in beide Richtungen der Realitätsauflösung) sind heute zum einen „Google Glass“ und zum anderen „Oculus Rift“…
–> bahnbrechend vor allem, weil diese Technologien so unfassbar erschwinglich und dazu noch recht unkompliziert zu handhaben sind.
http://www.focus.de/digital/internet/google/datenbrille-google-glass-mein-tag-mit-der-der-google-brille_vid_37822.html
http://www.heise.de/video/artikel/Videobrille-Oculus-Rift-ausprobiert-1834710.html
Wenn man die Prophezeiungen von Ray Kurzweil kennt…
http://en.wikipedia.org/wiki/The_Singularity_Is_Near
… dann liegt es eigentlich schon nahe, virtuelle Welten zu imaginieren, die entweder für uns oder für darin implementierte virtuelle Wesenheiten (AI) überzeugend genug wirken, um als (reale) Wirklichkeit erlebt zu werden.
Nick Bostrom hat zur sogenannten Simulaionshypothese (Matrix & Co) ein interessantes Argument formuliert, das besagt, dass wir prinzipiell von drei Möglichkeiten ausgehen können, wenn wir über die Wirklichkeit unserer erlebten Welt nachdenken:
[Prämisse ist unsere erlebte Welt: Wir erleben eine Welt, in der Wesen prinzipiell darin interessiert sind virtuelle/ simulierte Welten zu erschaffen und das Ziel überzeugende Simulationen zu ermöglichen erscheint effektiv erreichbar.]
1.)
Entweder wir gehen davon aus, dass wir in einem Universum leben, in dem sämtliche Zivilisationen (womöglich sind wir die einzige) vor dem Erreichen „technologischer Reife“ zugrunde gehen. (Es kommt nie dazu, dass diese überzeugenden Simulationen von Realität® generiert werden.)
2.)
Oder wir gehen davon aus, dass die meisten oder alle Zivilisationen, die es in diesem Universum gibt, gegeben hat oder geben wird irgendwie oder irgendwann keine Lust mehr auf Simulationen haben und die Ressourcen und Rechenkapazitäten für andere Zwecke als zur Simulation virtueller Welten verwenden wollen oder müssen… (Die Technologie wäre prinzipiell verfügbar, aber es wird nicht simuliert.)
3.)
Wenn Wesen in diesem Universum prinzipiell irgendwann in der Lage sind Realität® zu simulieren und dann nicht die Lust daran verlieren, das auch zu tun, dann kann man davon ausgehen, dass es mehr simulierte Welten gibt oder geben wird, als „reale“/ „historisch originale“ oder materiell(?) wirkliche Welten… (Es ist wahrscheinlicher, dass wir bereits in einer der unzähligen Simulationen leben, als in der einen „originalen Realität®.)
http://en.wikipedia.org/wiki/Simulation_hypothesis
http://simulism.org/Simulism_Home
Wenn man sich daraufhin die Frage stellt, mit welchem unheimlichen Rechenaufwand eine überzeugende Simulation von Realität® verbunden wäre, dann sollte man sich unbedingt vor Augen führen, dass Simulation nur im Fokus einer Beobachtung relevante Details abbilden muss, um Beobachter glaubhafte Wirklichkeit zu vermitteln.
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Asher Peres „Unperformed experiments have no results.“