Die Luhmannliste

von Kusanowsky

Die Luhmann-Liste war eine der merkwürdigsten Erscheinungen, die man nicht nur im Bereich der Groups, Foren und Mailinglisten im Internet findet, sondern auch innerhalb des soziologischen Wissenschaftsbetriebes. In letzterer Hinsicht ist sie wohl eher marginal; und dennoch fanden dort unvergleichlich interessante akademische Diskussionen auf einem Niveau statt, das man in anderen Mailinglisten so nicht finden konnte.

Das Interessanteste scheint mir aber zu sein, dass dort ein Anspruch durchgesetzt wird, den man in keiner Mailingliste in dieser rigorosen Art findet, nämlich der vollständige Verzicht auf eine administrative Vorsortierung oder Moderation von Beiträgen. Jeder kann sich dort ohne vorherige Vorstellung, ohne Einladung, ohne Angaben von Authentifizierungsmerkmalen beteiligen, was entsprechend dazu führt, dass sich immer wieder auch solche Leute an Diskussionen beteiligen, über welche man in der Soziologie zwar sprechen, mit denen man aber nichts zu tun haben möchte: Einfaltspinsel, Dummköpfe, Primitivlinge, Störer, oder kurz: das ganze schäbige Gesocks wird dort nicht einfach zum Teufel gejagt.

Interessant ist das deshalb, da die europäischen Wissenschaften traditionellerweise snobistisch und elitär gesinnt sind. Vor allem die Soziologie, dazu gehört auch ihre systemtheoretische Abteilung, erhebt immer noch den Anspruch, einen privilegierten Zugang zum Verstehen der Gesellschaft wissenschaftlich-methodisch zu erarbeiten; ein Zugang, dem ein übergeordneter Anspruch vor anderen Verstehensweisen zukommen sollte. Dieser Anspruch ist ein Selbstanspruch, der praktisch nur deshalb durchgehalten werden kann, weil die organisierte Soziologie von verbeamteten Professoren veranstaltet wird, welche als Staatsdiener die Exekutivgewalt des Staates ausüben.

Auch wenn das im akademischen Alltagsgeschehen an den Universitäten kaum als Tatsache auffallen kann, ist das dennoch nicht unbedeutend. Man denke dabei etwa an die Unruhen in den Universitäten in den 60er Jahren, aber auch gegenwärtig ist das Wissenschaftsbeamtentum, wenn auch inzwischen den Verwaltungsstrukturen an den Universitäten vollständig unterworfen, der Hauptselektionsfaktor, der den Unterschied von Wissenschaftlichkeit und Nichtwissenschaftlichkeit feststellt. Als wissenschaftlich gilt, was ein Diskurs von verbeamteten Staatsdienern als solches bezeichnet. Alternative Betrachtungen sind natürlich erlaubt und auch erwünscht, ihre Chancen auf Bewährung und Erhärtbarkeit müssen sich allerdings unter den Bedingungen eines an die Staatsgewalt gekoppelten Wissenschaftverständnisses ergeben. Wem, aus welchen Gründen auch immer, der Zugang zu einer wissenschaftlichen Karriere verbaut ist, findet keine Publikationsmöglickeiten, keine Einladungen zu Tagungen, keinen Zugang zum Diskurs, keine Lehraufträge oder sonst irgendwelche Stellen und enstprechend auch keine Chancen auf Reputation. Soziologie kann gegenwärtig immer noch nur durch legitime Beanspruchung von Staatsgewalt in Erscheinung treten. Es gibt keinen gesellschaftlich-soziologisch relevanten Diskurs, der nicht durch Staatsgewalt sanktioniert wäre. Es gibt, so könnte man verkürzt sagen, keine „freie Soziologie“; es gibt keine zweite legitime Soziologie, weil es keine zweite legitime Staatsgewalt gibt.
In der Eingangs verwähten Luhmannliste findet man nun eine höchst interessante Symbiose aus traditionell elitär und snobstischer, also esoterischer Wissenschaft und exoterischen Elementen. Und eben das führt dort zu Konflikten, deren Gegenstandslosigkeit, insbesondere unter Berücksichtigung systemtheoretischer Betrachtungsweisen nicht so leicht verständlich gemacht werden kann.