Das Scheitern der Luhmannliste
Aus bestimmten systemtheoretischen Annahmen, denen zufolge es keine Hierarchie von sozialen Systemen gibt, lässt sich ohne weiteres die Überlegung ableiten, dass es bei Urteilsbildungsprozessen keine autoritative Ebene gibt, aus der sich übergeordnete Ansprüche an Urteilsgewissheit, Wahrheit oder Überzeugungsfähigkeit ergeben.
Für eine Wissenschaft wie die Soziologie müsste das heißen, dass sie, mag sich sich auch eine systemspezifische Urteilskompetenz für die Welt des Sozialen selbst zueignen, sie doch keineswegs im Verhältnis zu den von ihr beobachteten Systemen einen Vorteil bei der Theoriebildung hat. Das liegt nicht nur daran, dass eine Soziologie, soweit sie systemtheoretische Annahmen ernst nimmt, selbst als beobachtetes System innerhalb ihrer Theorie vorkommt, sondern vor allem daran, dass sie von ihren Umweltsystemen mit Hilfe ihrer eigenen Unterscheidungen beobachtet werden kann, sobald systemtheoretische Differenzen in ihre Umwelt hinein diffundieren. Daher könnte man sich die Frage stellen, wie systemtheoretische Soziologen, sofern sie als Wissenschaftsbeamte eine Staatsgewalt exekutieren, ihre Entscheidungsfindung, etwa bei Doktorprüfungen, rechtfertigen können, wenn die Theorie selbst nicht als Rechtfertigungswissenschaft normativer Vorgaben konzipiert wurde. Denn die Begründung kann ja nicht lauten, dass eine Systemtheorie nur unter wissenschaftlichen Differenzen betrachtet werden kann. Wollte man dies allerdings behaupten, führt man eine rechtfertigungsbedürftige autoritative Ebene in die Diskussion ein, die man eigentlich verneint. Der Hinweis auf eine unhintergehbare Systemparadoxie wäre nur eine banale Rechtfertigungsstrategie, die schon deshalb nicht überzeugen kann, weil die Umwelt immer mit im Spiel ist.
Streng genommen liegt dann der Gedanke nahe, die Haltbarkeit systemtheoretischer Diskussionen unter Bedingungen zu testen, unter den die Beanspruchung einer Exekutivgewalt nicht oder nur schwer möglich ist. Einfacher ausgedrückt: eine Systemtheorie müsste gerade dann ihre Haltbarkeit „beweisen“ können, wenn sie sich aus dem Elfenbeinturm akademischer Diskussionen verabschiedet, wenn sie gleichsam auch unter nicht-wissenschaftlichen Differenzen diskutierbar wird.
Die Luhmann-Liste scheint von diesem Vorhaben geprägt zu sein. Aus Mitteilungen des Listenmoderators konnte man immer wieder eine Beharrlichkeit herauslesen, sich einem Moderationsverfahren, also einer administrativen Vorsortierung von Beiträgen zu widersetzen. Man könnte natürlich annehmen, dass diese Beharrlichkeit von einer gewissen Pragmatik zeugt, die den Arbeitsaufwand einer Moderation scheut. Aber für die Interpretation sozialer Sachverhalte kommt es nicht auf die Motive der Beteiligten an. Außerdem könnte man, wenn man schon von Pragmatik sprechen wollte, genauso gut den umgekehrten Gedanken akzeptieren, dass pragmatisch gesehen eine Vorsortierung für die Listendiskussion wünschenswert wäre. Die Beharrlichkeit könnte stattdessen als Argument genommen werden. Aber dieses Argument verfing in der Liste offenbar nicht.
Seit ihrem Bestehen gibt es immer wieder Listen-Skandale, die mehr oder weniger nach dem gleichen Muster verlaufen: Anonyme und/oder pseudonyme Subscriber schrieben sich in die Liste ein, was kein Regelverstoß war, beteiligten sich mit mehr mehr oder minder relevanten Beiträgen an der Diskussion, was ebenfalls kein Regelverstoß war, und nach Ablauf einiger Zeit, in der Diskussionen hin- und her mäanderten, schlugen die Wellen wegen Unzumutbarkeitsbekunden hoch, was immer wieder zu Diskussionen über Personenexkludierung führt, ohne, dass irgendwelche aussichtsreichen Regelungen der Vermeidbarkeit solche Skandal gefunden werden konnten.
Mein Argument als Verschlag zur Vereinfachung der Kommunikation lautet auch hier, ähnlich wie im Fall Wikipedia, solche Vorkomnisse nicht einfach als irrational oder dumm zu bezeichnen oder sie auf ein defizitäres Authentifizierungskonzept einer solchen Liste zuzurechnen. Vielmehr handelt es sich auch hier – so die These, deren Wissenschaftlichkeit nicht entscheidend sein muss – um Versuche, mit der Simulierbarkeit von Dokumenten durch Performate zurecht zu kommen. Dass solche Versuche dann peinliche Züge annehmen können, wie auch bei Wikipedia beobachtbar, liegt in der Natur der Sache, weil solche Lernprozesse keine autoritative Ebene haben, die ihren Fortgang „ex cathedra“ dirigieren. Es keine noch keine ausreichenden soziale Erfahrungen, Lerneffekte, Regeln, Muster, Gewohnheiten und dergleichen, die man hier anwenden könnte. Diese müssen, wie alles andere auch, erforscht werden, was ganz gewiss so einfach nicht ist.
Aber Wissenschaft kennt nur schwierige Aufgaben. An einfachen Aufgaben lässt sich keine Urteilsbildung trainieren.