Lernen und Vergesslichkeit – Welches Problem wird durch virtuelle Realität gelöst?
Meistens wird der Begriff der „virtuellen Realität“ mit einer Unterscheidung verbunden, durch die eine virtuelle Realität von einer physischen Realität abgegrenzt wird. Prüft man eine solche Unterscheidung genauer, stellt man fest, dass es sich dabei nur um eine Verlegenheitsunterscheidung handeln kann, da wir zur Wahrnehmung einer virtuellen Realität keine anderen Sinnesorgane benutzen. Unsere Wahrnehmung kann eine virtuelle von einer physischen Realität nicht unterscheiden. Das Gehirn verhält sich gegen eine Unterscheidung von physisch und virtuell indifferent. Durch Wahrnehmung könnte niemals geklärt werden, was mit dieser Unterscheidung bezeichnet werden sollte. Da aber alle wahrnehmbaren Unterschiede bereits auf entwickelte Sinnstrukturen treffen, scheint einem Beobachter immer schon klar zu sein, wie sich eine physische Realität von einer virtuellen unterscheiden läßt. Damit stellt sich die Frage, was das Compositum „virtuelle Realität“ bedeuten könnte, eigentlich nicht mit großer Dringlichkeit. Eine verkürzte Betrachtungsweise scheint ja den Umgang damit gar nicht gar nicht zu blockieren. Da wir aber auch gewohnt sind, auf Widersprüche widersprüchlich zu reagieren, kann man die Frage nicht einfach beiseite legen, weil man glauben oftmals möchte, dass Widersprüche das Fortkommen blockieren.
Auf einen Widerspruch stößt man nämlich, wenn man einerseits „virtuelle Realität“ als Bezeichnung für mögliche, also potenzielle Existenz nimmt, anderseits dieses Potenzialität mit einer Tatsächlichkeit der Existenz gleichsetzt. Semantisch heißt das, dass das Compositum „virtuelle Realität“ eine Form wiedergibt, die zugleich auf Existenz und Nichtexistenz verweist. Gebraucht man Unterscheidungen in der Weise, dass sie Paradoxien offen legen, also auf semantische Oppositionen aufmerksam machen, dann bekommen Unterscheidungen gewissermaßen die Funktion, neue Unterscheidungen hervorzubringen und damit die durch die entsprechende Paradoxie blockierte Situation zu entparadoxieren. Denn Paradoxien zu konstruieren heißt, einen Verlust der Bestimmbarkeit und damit der Anschlussfähigkeit für weitere Operationen in Aussicht zu stellen, durch Verwendung weiterer Unterscheidungen aber den Weg für die Fortsetzung des selbstreferenziellen Operierens gleichsam freizuräumen. Genau damit haben wir es zu tun, wenn wir es mit virtueller Realität zu tun haben, da sie nämlich einen operativen Raum neuer Art schafft, der überlieferte Konventionen der Konsens- und Dissensbildung nivelliert.
Für die moderne Gesellschaft gilt, was wohl kaum für andere Formen der Herstellung sozialer Verbindlichkeiten gelten könnte, dass sie stets, wenn sie mit ihren Aporien an die Grenze ihrer Möglichkeiten kommt, auf die Funktion von Technik als Substitution von Konsens oder Dissens ausweicht. Die Gesellschaft löst ihre Probleme nicht eigentlich, sondern sucht Auswege zur Umformulierung der Problemsituation.
Nimmt man diese Überlegungen ernst, versteht man auch, woher der Fortschrittsoptimismus und die Zukunftshoffnungen stammen. Je schneller und je enger die Strukturen sich in Widersprüche verwickeln und je gefährlicher die Aussicht besteht, an den so entstehenden Aporien zugrunde zu gehen, um so intensiver entfaltet sich das Geschäft der Erfinder und Tüftler. Wenn man auch gegenwärtig den Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrunderts nicht mehr in der Weise teilen möchte, wie er sich zunächst ausgebreitet hatte, so kann doch bemerken, dass sich alle Hoffnungen auf die Zukunft richten und damit auf die potenzielle Möglichkeit, die gegenwärtig aktuelle Problemsituation dem Vergessen übergeben zu können.
Lernen zu können heißt, Informationen ins Vergessen zu transformieren; auf eine Kurzformel gebracht: die beobachtete Negation von Überraschung. Lernfähige Strukturen sind dann in einem System beobachtbar, wenn man sie beim Vergessen beobachten könnte. Ein Beobachter, der ein System daraufhin überprüfen will ob es lernen kann, muss entsprechend ständig Krisen inszenieren, die dieses System dazu zwingen, sich an das zu erinnern, was es hätte vergessen können, um herauszufinden, was es gelernt hat.
Und an Krisen, aus denen man lernen könnte, mangelt es wahrlich nicht.