Simulation statt Dokumentation – wie virtuelle Welten das Hase-und-Igel-Wettrennen erklären
Mit der Entwicklung von Performaten, wie sie durch das Internet zugänglich werden, ergeben sich Formbildungen aus Simulationen, die als Strukturen zwischen einem Beobachter und die von ihm erzeugte Beobachtbarkeit der Realität geschaltet werden. Diese sich so konstituierenden Simulationen werden als dauerprozessierende Repräsentanten räumlicher, zeitlicher, funktionaler, logischer, kausaler und phänomenaler Zusammenhänge gleichsam zum Stellvertreter sowohl des Beobachters, der nur noch als Selbstbeobachter begriffen wird, als auch zum Stellvertreter der durch ihn beobachtbar gemachten Realität. Es sind diese Simulationen, deren Repräsentanz sich nicht mehr auf Dokumentierbares beziehen, welche sicher stellen, dass sowohl die Aneignung der Welt als auch ihre Erzeugung durch Zusammenhänge geschieht, die aus solchen Simulationsentwicklungen hervor gehen und begriffen werden als Prozesse der Konstruktion und der Rekonstruktion dessen, was sie permanent fluktuierend respräsentieren.

„Ich bin schon da!“ Das Wettrennen zwischen Hase und Igel. Auszug aus einer 1855 erschienen plattdeutschen Ausgabe. Ein populärer Erzählstoff, der das moderne Kausalitätsverständnis persiflierte.
Die Dokumentform des Industriezeitalter schloss immer die Autorität eines Urteilsanspruches ein, womit immer auch Annahmen darüber verbunden waren wie die Entfaltung von Kräfteverhältnissen der Überzeugungsfähigkeit entstehen. Auf diese Weise konnte die Dokumentform auch zur Erprobungen von Fiktionen genutzt werden, sofern alles, was als fiktiv in Erscheinung treten konnte die Dokumentform gar nicht außer Kraft setzte, sondern gerade umgekehrt sie einer Haltbarkeitsprüfung unterzog, die den Überzeugungsgrad der Dokumentform erhärtete. Insofern war der Fiktionalisierung der Realität immer eine scheinbar objektive Grenze ihrer Plausbilität auferlegt. Alles, was geschehen konnte, musste sich einem Verweisungsverfahren von Dokumenten auf andere Dokumente unterziehen. Filme bezogen sich auf Bücher, Bücher auf Bilder, Bilder auf Moden der sonstigen Konsumgüterproduktion, diese wiederum auf Romane, welche etwa im Rundfunk thematisiert wurden. Auch hybride Formbildungen wurden möglich, wie etwa Comics, aber nie konnte die Autorität eines Urteilsanspruches außer Kraft werden, auch dann nicht, wenn man die Möglichkeiten der Dokumentform überdimensional strapazierte. Man denke dabei etwa an die Verbreitung von Musikvideos in den 1980er Jahren, die mit einer irren schnellen Schnitttechnik alles Dokumentarische auf einer deskriptiven Ebene vernichteten, aber durch Gebrauch des Videorekorders performativ sogleich wieder zurück gewannen.
Wenn also das Dokument nur Bestimmtes innerhalb seiner Struktur fiktiv zulässig machte, so enthüllt die Simulation, die mathematische Operationen als Fiktionsinstrument verwendet, alles nur irgend Mögliche. Simulationen könnten also jegliche Fiktion konstruieren. Diese, für die Simulation repräsentative Konstruktion, die durch eine narrative, zeitliche Wenn-dann-Konditionierung definiert ist, stellt das Ideal einer auf ideale Weise wandelbaren Matrix dar, die in der Lage wäre, alle möglichen Evolutionen hervorzubringen. Sie unterliegt aber gleichzeitig den eigenständig konstruierten Zwängen und Gesetzen, die unter den ehemaligen Umständen der Dokumentierbarkeit nur bedingt Geltung behaupten konnten. Der Unterschied zwischen Fiktion und Simulation besteht dann darin, dass die Simulation welterklärende Eigenschaften erhält und Beweiskraft entwickelt. Real ist dann nicht mehr, was durch Dokumente nachprüfbar, sondern was simulierbar ist. Die Simulation unterscheidet sich von der Fiktion dadurch, dass sie alle Dokumentalität unterläuft und hintergeht, dabei aber zugleich ihre eigene Wirklichkeit schafft. Die Simulation macht Imaginäres und Reales kongruent. Realität wird in dieser Hinsicht zum Integral ihrer Simulationen: Welt verstehen zu können heisst dann, sie in Performaten simulieren zu können.
Die in der Moderne entwickelten Wissenschaften beanspruchten das Experiment als eine messbare Naturbeobachtung unter Laborbedingungen zu Argumentationszwecken. In diesem Sinne war das Laborexperiment ein durch Dokumentalität überformtes autoritatives Beweisverfahren. Dieses Verfahren implizierte aber zwei wesentliche Vorraussetzungen im Verhältnis zu der Wirklichkeit, die so beobachtet wurde. Erstens existierte nach diesem Verständnis eine bereits beobachtbare Wirklichkeit, zweitens wurde mit einem die Sinneswahrnehmung respektierenden Aufbau des Experiments eine dem Erkenntnisziel entsprechende Wirklichkeit in Hinsicht auf die Messergebnisse bereits vorab konstruiert, d.h. das Experiment besaß vorab keine Realität außerhalb derjenigen Realität, die es von den Experimentierenden verliehen bekommen hatte. Dieses, nicht nur die empirischen Wissenschaften betreffende Dilemma, bestand in der Notwendigkeit, dass auf der einen Seite eine beobachtbare und experimentell nachvollziehbare Wirklichkeit unterstellt werden musste, während auf der anderen Seite gerade jenes Verfahren zeigte, dass die präsupponierte Realität nur das nachrangige Resultat der den Experimenten zugrunde liegenden und ebenso aus ihnen folgenden Beobachtungen war. (Siehe dazu das Hase-Igel-Wettrennen). In Simulationsverfahren wird dieses Problem gar nicht vorkommen können. Sie lösen ihre Kausalitätsprobleme in die Beobachtung von Gleichzeitigkeitsprozessen auf und machen auf diese Weise alle Manipulierbarkeit zunichte, weil nichts von dem, was sich gleichzeitig ereignet, manipulierbar ist.