Differentia

Zum Unterschied zwischen Dokumentation und Simulation von Texten

Bei konventionellen Schriftdokumenten wird, das ist seit jahrtausenden der Fall, ein geeigneter Untergrund gezielt manipuliert. Texte müssen, um überhaupt wahrnehmbar zu sein, kontrastierend zu einem Trägerobjekt auf diesem Objekt erzeugt werden. Der Signalabstand wird hierbei durch einen ausreichenden Kontrast zwischen einer gleichförmigen Objektbasis und den darauf hinterlassenen Spuren sicher gestellt. Dazu wird die Oberfläche des Materials gezielt verletzt, verziert oder anderweitig manipuliert. Bei diesem Schreibprozess interessiert im wesentlichen die materiale Erscheinung eines Signifikanten, der in diesem Fall kein ordnungsfähiges Geräusch ist, sondern eine Schreibspur. Entsprechend ist für die Schriftlichkeit eine permanente Selbstreferenz des Mediums nötig, die im Gegensatz steht zur Flüchtigkeit wie das Vergehen des Geräusches im Sprechakt oder das Vergehen der Zeit im Sprachfluss. Das verweist auf einen weiteren Aspekt der Permanenz: Oralität erfordert, dass auf Gehörtes nur im eigenen Gedächtnis erneut zugegriffen werden kann, wohingegen der geschriebene Text es erlaubt kursierend zu lesen. Er ist damit schon in diesem, wenn auch sehr niederen Bereich einer gewissen Linearität bei der Rezeption entbunden.
Ein weiterer in diesem Zusammenhang wichtiger Aspekt ist der, dass im Gegensatz zur Oralität, Produzent und Rezipient sich in der Regel nicht in einem gemeinsamen Referenzraum gegenseitig beobachten, wodurch allein dadurch schon eine Kontextualität vorstrukturiert ist, und daher auch die tatsächliche Distanz des Lesers zum Autor, sei sie zeitlich oder sozial, nicht immer genau feststellbar ist. Der Text ist weder mit dem Sprecher noch mit dem Hörer kopräsent, sondern er wird dazwischen geschoben und für beide, für den Autor wie für den Leser als etwas selbständiges illusioniert. Es gelten daher für Horizont und Situationalität der Kommunikation andere Regeln als für die Oralität.
Das Textdokument erfordert einen ausreichenden Kontrast zum Untergrund, der es erlaubt, über diese Differenz Zeichen zu erkennen. Schrift und Trägerobjekt sind damit unzertrennlich verbunden. Im Gegensatz dazu sind Texte auf einem Bildschirm, obwohl sie als verhältnismäßig statisch erscheinen, das Resultat verschiedener ständig laufender Operationen. Sie sind in Bewegung, werden ständig neu geschaffen, Zeichen und Lesegerät sind also von einander unabhängig, sind das Ergebnis einer Maschinenentwicklung von symbolischen zu formal-abstrakten Operationen, eine Entwicklung, die vom Rechnen mit Steinen ihren Anfang nahm. Was der Bildschirmbetrachter sieht, ist eine Art Film, mit etwas mehr als doppelt so vielen Bildern als im Kino, ein Film, der aber nicht der festgelegten Sequenz eines Regisseurs folgt, sondern von Aktionen und Instruktionen abhängig ist. Das bedeutet zunächst eine starke Abhängigkeit: ohne Rechner kann man die Texte nicht mehr lesen. Gleichzeitig bietet diese Art der Textpräsentation Möglichkeiten, die sich qualitativ grundlegend von traditionellen Methoden unterscheiden. Der Text wird zum eigenen Trägermedium, das erneut mit Instruktionen beschrieben werden kann. Vereinfacht kann man aus der Leserperspektive von aktiven und sensitiven Texten sprechen. Die Texte, die man am Computer liest, können ihr Erscheinungsbild also jederzeit ändern. Das führt natürlich auch dazu, dass der Leser sich nicht mehr so sehr auf den Text verlassen kann. Texte können verschwinden, verändert werden, Referenzen werden schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Außerdem erscheinen Texte auf einem Bildschirm immer als bearbeitungsfähig. Das bedeutet, dass Informationen darüber, was der Leser tut, während er liest, mindestens vorübergehend, oft aber auch permanent gespeichert und als Zusatzinformation an den gelesenen Text gebunden werden können. Das ist der andere große Unterschied zu traditionellen Medien, wo Verleger und Händler, wenn sie ein Buch einmal aus der Hand gegeben haben, in der Regel nicht mehr wissen, was damit anschließend geschieht. Die Textpräsentation durch Simulation in Hypertext ist dynamisch und interaktiv; sie wartet praktisch auf Instruktionen von Seiten des Lesers.

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Die Simulierbarkeit von Dokumenten

Verfolgt man Aufkommen und Konjunktur von Gegenständen und Themen historisch orientierter Forschungen, wird man immer wieder feststellen können, dass das Interesse an bestimmten Forschungen einher geht mit dem Verschwinden dessen, wofür man sich interessiert. Schon bei den Brüdern Grimm war die Dokumentation von populären Erzählstoffen ein Reflex auf das Verschwinden von Volksmärchen; ein wirtschaftshistorisches Interesse an einer „Arbeiterkultur“ kam zu einem Zeitpunkt auf, zu dem die Dienstleistung längst der größte Wirtschaftsektor war und die Erfindung der Antiken-Archäologie im 18. Jahrundert registrierte einen Abbruch und Beseiteräumen von Ruinen, die einem modernen Bauprogramm im Wege standen. Nicht anders auch die Entdeckung der Bedeutung des Buchdrucks, dessen Relevanz erst fokussiert werden konnte als zugleich der Bedeutungsschwund dieser Technologie als epochaler Kulturwandel  thematisert wurde.
Diese Reflexion geht zurück auf Verschiebungen, die sich im medialen Dispositiv der postindustriellen Gesellschaft abzuzeichnen beginnen. Ein Buch wird durch die sukzessive Folge seiner Seiten immer linear gelesen. Das Internet erlaubt dagegen eine Hyperstruktur. Von einem Satz kann man nicht nur zu jenem gelangen, der, wie in einem Buch, diesem folgt, sondern es ergeben sich mehrere Möglichkeiten. Je mehr Verknüpfungen möglich sind, umso mehr potentielle Lektüren sind akualisierbar. Dadurch ergibt sich für Texte ein anderes Beobachtungsschema. Der Leser verbleibt damit nicht mehr als passiver Rezipient des Produktionsprozesses von Texten. Es können Verbindungen hergestellt werden, die den Autoren nicht bewusst waren und die erst durch den Leser entstehen. Diese Textstruktur ist identisch mit der Struktur eines Netzes, durch das dieser Text entsteht. Nicht mehr die eindeutige Folgerung eines Sachverhalts aus einem vorhergehenden Argument prägt dann eine Argumentationsweise, sondern die Anschließbarkeit eines Textpartikels an einen anderen stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Im Kontext der Simulierbarkeit von Dokumenten rückt an die Stelle von Geschlossenheit der Argumentationen die Beachtung der Anschlussfähigkeit und Vernetzbarkeit. Alle Argumentation entzieht sich so der Dokumentierbarkeit und erscheint performativ als Simulation, die ihrerseits als Wechsel der medialen Struktur durch das Internet in Erscheinung tirtt.
Die Annahme, dass das Medium eine Rolle für die Konstitution von Erkenntnis in den Wissenschaften spielt, ist eine logische Folge aus Entwicklungen über die Annahme des historischen Gegenstandes; und sie ist eine logische Konsequenz aus wissenschaftsimmanenten Entwicklungen der jüngsten Zeit, welche sich ihrerseits als Reflex und Symptom einer sich medial fundamental wandelnden Welt zeigt.
Sind die Medien erst einmal als Forschungsgegenstand entdeckt, ist es nur konsequent, wenn die Wissenschaften selbst als mediale Ereignisse begriffen werden. Entsprechend ist die Forderung nicht abseitig, die besagt, dass Wissenschaften die Medien mitreflektieren müssten, in denen sie Erkenntnisse formulieren und vermitteln. Die Frage nach dem Einsatz differenter Medien in der Erkenntnisformulierung und –vermittlung vereinigt entsprechend wissenschaftstheoretische und gestaltungspragmatische Fragestellungen, da man nun bemerkt, dass sich Texte und Bilder im digitalen Zeitalter aufgrund ihrer gleichförmigen Bearbeitung im digitalen Code stärker als bisher aneinander annähern, auch wenn noch gelten mag, dass sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption dieser beiden Dokumentformen nach wie vor bedeutende Unterschiede bestehen.
In diesem Zusammenhang wird dann aber auch die Bedeutung von Rationalität als diskursive Logik prekär, weil alle Rationalität linear verfährt, indem sie Argument an Argument reiht und schlüssig auseinander entwickelt. Der Text gilt dann nicht mehr als distanzbildendes Dokument, in dem sich die diskursive Logik einer selbstkritischen Wissenschaft am effektivsten entfaltet.  Und insofern verliert auch Sprache ihre identitätsstiftende Funktion, weil Annahmen nicht mehr haltbar sind, durch die Sprache als Ausdrucksmittel zur Bezeichnung von Realität begreifbar wird. Mit einem konventionellen Verständnis monolinearer Logik konnte man Rationalität  sprachlich  am adäquatesten formulieren, weil damit Vorstellungen über Eindeutigkeit von Rationalität und Identität von Sprache in der Dokumenform zusammenfielen. Dieses Vertrauen in Linearitäten, in Eindeutigkeiten und damit auch in Rationalität zerfällt nun. Methoden der Textkritik, wo sie nicht der Rechenfähigkeit von Computer überlassen werden können, verlieren für einen Diskurs genauso an Relevanz wie hermeneutische Interpretationsansätze. Aber das heißt nicht, dass Texte und Bilder verschwinden, sondern nur, dass ihre Materialität auf ihre performative Fähigkeit zur Fortsetzung von Simulation hin überprüft werden.

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