Verletzungsfähigkeit von Menschen durch Öffentlichkeit
von Kusanowsky
Die Irritationen über die Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit lassen nicht nach und werden auch in nächster Zeit die Gemüter besetzen und sich den Subjekten dämonisch aufdrängen, weil durch die Beibehaltung dieser Unterscheidung immer wieder die gleichen unlösbaren Probleme aufgeworfen werden, durch welche die Diskussion bewegt wird, ohne für diese Probleme auch nur im Geringsten eine Lösung finden zu können.
Nun ist es nicht so leicht, einfach eine andere Unterscheidung ins Gespräch zu bringen, die geeignet wäre, das Beobachtungsschema zu ändern. Die Änderung muss sich von selbst ergeben, muss sich zeigen, muss sich als brauchbar erweisen. Will man aber von dieser Unterscheidung nicht ablassen, so ist es gewiss nicht wichtig, ob sie richtig gewählt ist oder nicht, denn sie wird ja in jedem Fall benutzt – wer wollte sagen, dass sie “unstimmigerweise” benutzt wird?
Dagegen wird man vielleicht eher fündig, wenn man danach fragt, was durch Beibehaltung der Unterscheidung sichtbar wird, das vorher nicht, oder nur schwer erkannt werden konnte. Was tritt mit dieser Unterscheidung als Problem auf, das vorher kein Problem von dieser Dringlichkeit war? Die Antwort könnte lauten: Zum Problem wird das, was durch diese Unterscheidung als etwas zu Vermeidendes garantiert werden sollte, nämlich die Verletzungsfähigkeit von Menschen durch Öffentlichkeit. Das meint: Solange man glauben konnte, dass Menschen schutzbedürftig sind und dieser Schutz durch eine Privahtsphäre sicher gestellt werden könne, solange war immer auch die Hoffnung gegeben, dass sich durch Beibehaltung dieser Unterscheidung alles Notwendige finden ließe. Wenn diese Unterscheidung nun fraglich wird, so könnte man vielleicht auch vermuten, dass die Annahme der Verletzungsfähigkeit und Schutzbedürftigkeit keineswegs so plausibel ist, wie landläufig angenommen.
Die Unterscheidung konnte im Entwicklungsprozess der industrie-kapitalistischen Gesellschaft deshalb attraktiv werden, weil sie die Schutzbedürftigkeit auf der Seite der Privatheit verankerte. Privatheit war Schutz, der gewährleistet werden konnte, weil die Schutzverletzung enorme Hürden zu überwinden hatte, wie etwa die Notwendigkeit des Eindringens, Verfolgens, Denunzierens; Maßnahmen, die immer daran gebunden waren, dass ein Körper lokal gebundene Zugriffsmöglichkeiten auf Privatdaten entsprechender Dokumente haben musste. Man denke als Beispiel an die Arbeit eines Privatdetektivs. Was noch vor 10 Jahren eine mühevolle Arbeit des Sammelns und Auswertens von lokal verstreuten Daten war, ist heute in nur einem Bruchteil der selben Zeit mit jedem PC irgendwo auf der Welt möglich.
Das Internet macht mit seinen Möglichkeiten die Kontingenz des Unterscheidungsschemas privat/öffentlich sichtbar. Das Internet trägt nun zur einer “Entschleierung der Verhältnisse” (K. Marx) bei; man kann jetzt etwas sehen, das auch vorher schon ein Problem war, aber durch die Wiederholung des selben Unterscheidungsverfahrens im Vorgang der Reproduktion invisibilisiert wurde und damit latent eine Strukturschutzfunktion ausübte. Man konnte sich immer relativ sicher bleiben, dass Privatheit schützbar sei, weil die Schutzverletzung öffentlich bemerkbar werden konnte. Dieser Zusammenhang kehrt sich nun um: die Schutzverletzung (etwa durch Internet-Stalking) kann jetzt selbst durch Privatheit geschützt vorgenommen werden.
Der Stalker, der Schnüffler oder Spion kann sich selbst sehr leicht ähnlicher Maßnahmen durch andere entziehen, indem sein Beobachtungsverhalten nicht mehr öffentlich zugänglich ist. Gewiss hinterlässt er Spuren, wie alle anderen auch, doch jeder, der sie verfolgen möchte, ist selbst wiederum ein Stalker, Schnüffler und Spion, für den das selbe gilt: wer sollte ihn bemerken?
Und außerdem kommt hinzu, dass es durch die digitale Bearbeitung von Dokumenten immer leichter geworden, den Stalker, Spion oder Schnüffler zu täuschen. Nicht, dass es keinen Grund mehr gäbe, sich Sorgen zu machen, allein die Frage sei gestellt: worüber?
Servus,
stimme dir nicht ganz zu. Mit der zitierten Bemerkung versuchte ich zu kommunizieren, dass Streetview nicht als Streetview selbst diskutiert wird, sondern übersehen wird, dass es insbesondere bei denen, die einen Vorbehallt haben, einen unausgesprochenen Hintergrund ihrer Argumentation gibt, die sich an Streetview als einem symbolischen Gegenstand entspinnt. Als würde man über eine Flagge streiten, aber ein bestimmtes Konzept der Nation dabei problematisieren. „Pseudodebatte“ eben deswegen, weil sie nicht zu dem Punkt vordringt, an dem eine Debatte möglich wäre. Momentan habe jedenfalls ich sehr viel Despektierliches insbesondere von hoch-netzaffinen Bloggern gelesen, die nur den Kopf schütteln und konstatieren, ein Foto vom öffentlichen Raum könne ja wohl kaum die Privatsphäre verletzen. Unter gleichzeitigem Hinweis auf die bereits vorliegende Fotomasse etwa in Google Earth. Schwerlich von der Hand zu weisen, dass es hier um Öffentliches geht.
Zugleich versuchen – wenige und eher stille – Kritiker von Streetview verzweifelt eine Begründung zu finden, warum die Fassade eben doch „privat“ sein können. Und weisen dann eher hilflos auf kollaterale Bildbestandteile wie Gesichter und KFZ-Nummernschilder hin.
Meine Anmaßung der Urteilskompetenz besteht nun in dem Hinweis, dass diese Debatte in traditionellen, simplen Begriffklichkeiten von privat/öffentlich nicht zu führen ist. Denn wir können uns wohl darauf einigen, dass eine Wohnung weitestgehend ein Privatraum ist – aber was denn „privat“ sei ist demgegenüber enorm schwierig zu bestimmen. Nicht nur weil privat/öffentlich keine durch eine klare Grenze entschiedene Entgegensetzung ist, sondern weil nicht einmal eine „Intensitätsachse“ von mehr/weniger privat vorhanden ist. Das versuchte ich mit dem Begriff der Socialitäten zu beschreiben. Dasjenige, was – deine Beschreibung aufnehmend – als „Schutzraum“ definiert wird, ist durchaus vielfältig und der jeweiligen kommunikativen Beziehung geschuldet, auf die sich das „privat“ bezieht.
So ist gegenüber dem Staat sicherlich die Wohnung „privat“. Auch für Geschäftskunden, Zeugen Jehovas, Postboten. Lasse ich eine Reinigungskraft in die Wohung, ist ihr gegenüber die Wohnung nicht mehr privat, sondern teilöffentlich und ich definiere explizit „private“, also nicht zugängliche Bereiche. Für meinen Chef ist mein Freizeitleben weitgehend Privatsache, für Exfreundinne meine aktuelle Beziehung. Und so weiter. Aus der Beziehung heraus wird definiert, was privat – also „privatus“, nämlich der Kommunikation oder Sichtbarkeit aktiv beraubt – bleibt.
Durch Online-Angebote werden „Privatheiten“ schwerer handhabbar. Denn ich werde gezwungen, mich auf einer Plattform, in denen unterschiedlichste Socialitäten von mit vereint sind, mich entweder moderierend mit Irritationen auseinander zu setzen. Oder eine eigene „netzöffentliche“ Rolle für mich zu definieren.
Ich bin deswegen davon überzeugt, dass die einfache „privat“-Zuschreibung Verfechter und Kritiker von Streetview nicht zueinander bringen wird. Denn die individuelle Zuschreibung der eigenen Wohnumstände als „privat“ (die keine allgemeingültige sein kann weil es kein allgemeines „Privates“ gibt) beschreibt eine subjektive Entscheidung, die derjenige, der sie getroffen hat, nun nicht mehr durchsetzen kann, weil die Fassade im Netz zu sehen ist. Was privat ist, wird also entschieden. Das Private ist nicht länger Eigentum, sondern der gnädigen Zuschreibung eines Konzerns überantwortet, der entscheidet, was für mich privat ist und was nicht.
@postdramatiker „stimme dir nicht ganz zu“ – genau. Aus deinen Überlegungen geht hervor, in diesem Kommentar genauso wie in deinem Blog-Artikel, wie sehr die Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit „nicht mehr ganz“ auf die Verhältnisse zutrifft, aus denen sie als Lösung hervor gegangen ist. Daher ja auch bei mir die Überschrift „Zur Kontingenz…“ Wie könnte es anders sein, müsste doch auch die Diskussion um Für und Wider auf ihre Kontingenz hin betrachtet werden.
„„Pseudodebatte“ eben deswegen, weil sie nicht zu dem Punkt vordringt, an dem eine Debatte möglich wäre.“ Die Zahl der möglichen Kontexte, durch die eine Debatte möglich wird, ist gar nicht zu überschauen. Soweit ich das überschauen kann ist der hier funktionierende Kontext das Sommerloch, das in der sauren Gurkenzeit eine höchst relevante Diskussion zuläßt, die vielleicht deshalb möglich wird, weil mit dem Sommerloch auch das Alltagsgeblödel der Massenmedien wenig ersprießlich ist und damit einmal weniger für eine durchaus komplizierte Diskussion im Wege steht.
„Das Private ist nicht länger Eigentum, sondern der gnädigen Zuschreibung eines Konzerns überantwortet, der entscheidet, was für mich privat ist und was nicht.“ – Nein, es ist ja nicht ein Konzern der das Private okkupiert, sondern dessen Durchsetzungsfähigkeit deshalb enorm groß ist, weil die Unterscheidung privat/öffentlich unter den Bedingungen ihrer kontingenten Möglichkeit behandelbar wird. Ich will gar nicht bestreiten, dass wir es mit einer imperialen Verfügungsmacht zu tun haben; würde nur bestreiten wollen, dass sie die Bedingungen ihrer Durchsetzungsfähigkeit selbst mitbringen kann.
Durchsetzungsfähigkeit – Google hat die Bildrechte an den eigenen Fotos. Damit ist der öffentliche Raum durch die photographische Aneignung durchaus in bestimmter Weise privatisiert.
Sommerloch – ja! Das unglaublich ärgerliche ist nur, dass einerseits dieses Thema so unglaublich dumpf durch massenmediale Verbalkeulenschwingen erledigt werden soll, statt sich der Kontingenz (stimme zu) zu stellen und sie auszuloten. Und dass zudem weittragende Veränderungen (Netzneutralität, Bundeswehr) eigentlich reines Geblödel bleiben, das unter dem Streetviewgeblödel noch „verschüttet“ wird.
@postdramatiker – „Das unglaublich ärgerliche ist nur, dass einerseits dieses Thema so unglaublich dumpf durch massenmediale Verbalkeulenschwingen erledigt werden soll“ Es mag ja sein, dass das alles sehr ärgerlich ist, aber der evolutionär relevante Spielraum zur Anpassung ist immer nur ein sehr geringer. Die Diskussion kann nicht differenzierter geführt werden, weil immer noch Residualkategorien prominent berücksichtigt werden, wie etwa die Annahme, man könne digital verfügbare Informationen ‚privatisieren‘. Alle solche Diskussionen gehen immer durch einen Flaschenhals.
[…] der Netzwerkbildung zuschreiben kann, sofern die Unterscheidung von bekannt und unbekannt durch die Unterscheidung von privat und öffentlich als relevant in Erscheinung tritt. Denn wenn man darauf schaut, worauf ein Beziehungskapital der […]
früher war verhalten im einzelnen beobachtbar, heute ist es im ganzen aggregierbar.
Die Aggregierung ist eine Form des Beobachtens von Verhalten. Die interessante Frage ist dann nur, ist Verhalten noch zurechenbar? Und wenn ja, auf wen oder was? Was soll da noch zusammengefasst, gebündelt werden? Werden damit Zwecke erfüllt? Können Ziele erreicht werden?
Denn wie immer man den Prozess der Erzeugungn von Daten über Daten gestalten will, so muss immer noch die Frage nach Kriterien der Gruppierung und Zuordnung gestellt werden. Und darüber müssen auch schon Daten vorliegen. Kann man noch annehmen, dass einheitliche Kriterien, Normierungen, Standards durchsetzbar sind? Nicht, dass keine Generalisieurngen mehr möglich wären, allein die dafür notwendigen Vorbedingungen liegen in einem höchst undurchschaubaren Bereich der Kontingenz, den niemand von irgendeiner Stelle aus beherrscht oder durchschaut.
‚Outen‘ ist durch das Web einfacher; das kann für manche/manchen hilfreich sein. Natürlich ist auch das ‚geoutet‘ werden einfacher; für manche kann das einen akademischen Titel kosten.
Die Kommunikation von ‚Behinderten‘ mit ’normalen‘ Menschen ist durch die scheinbare ‚Normalität‘ der Interakteure im Web einfacher (Sprechfehler, Hemmungen, Aussehen usw.), weil man sich im Web eher auf den Unbekannten/die Unbekannte einlässt (mich z. B.) – und man kann auch die ohne das Web kaum vorstellbare Privatheit von Meinungsäußerungen (Blog, Twitter, Facebook) und die ungehemmte zur Schaustellung von Meinung (Beiträge in Presse-Blogs, LinkedIn, Xing und andere Reputationsgezwitscherplattformen) wahrnehmen. So gesehen, wäscht oft die eine Hand die andere.
Und klar, wenn man sich über die Besonderheiten eine Vibrators mit Klarnamen in einem entsprechenden Konsumer-User-Forum auslässt, dann kann das ein paar Jahre später schon ärgerlich sein, wenn man irgendwie rasch in einem speziellen Kontext ergoogelt wird … soll sogar in höchsten politischen Kreisen vorkommen. Man hat nie wirklich die gesamte Kontrolle und vielleicht ist das ja auch gut so und eine Chance
Ein weiterer guter Grund, nicht die althergebrachten Dichotomien zu betrachten, sondern die Relationen und deren Wechselwirkungen mit Verhalten.