Handlung und Wahlfreiheit – eine Kurzanalyse

von Kusanowsky

Die Frage nach der Willensfreiheit ist ein alter Hut und hat in der gesamten europäischen Geistesgeschichte schon immer die Gemüter bewegt. Das interessante an der Frage ist aber nicht, ob man sie eindeutig und widerspruchsfrei beantworten könnte oder müsste. Ein besonnenes und intellektuell anspruchsvolles Interesse würde sich erstens auf die Frage richten, warum das so ist und zweitens, wie und unter welchen Bedingungen das Problem der Willensfreiheit auf die Tagesordnung kommt.
In einer stratifizierten Gesellschaft lagen ganz andere Erkenntnisinteressen vor als sie es einer funktional-differenzierten Gesellschaft sein könnten. Ehedem war die Willensfreiheit geknüpft an ein Verhältnis zwischen Gottes Gnade und menschlicher Erbsünde. Dabei spielte die Frage ein wichtige Rolle, was denn für das Seelenheil der Nichtgläubigen vorgesehen wäre. Uns sind solche Überlegungen vollständig fremd. Stattdessen liegt unserem Verständnis eine Unklarheit über Identität zugrunde, die durch die Annahme handelnder Subjekte in Erscheinung tritt. Eine weiterführende Frage liegt dann in der Vermutung, mit welcher Art von Gesellschaft wir es zu tun bekommen, wenn die Annahme handelnder Subjekte brüchig wird.
Nehmen wir die Annahme selbstreferenziell geschlossener Systeme als Beobachtungsschema für die Analyse der von der Hirnbiologie angenommenen Beurteilungssituation, so könnte man eine Analyse folgendermaßen entwickeln.

Eine beliebige Interaktionssituation – etwa: zwei Bekannte sehen sich wieder und schütteln sich zur Begrüßung die Hände – kann durch bildgebende, neuorwissenschaftliche Verfahren in mehr oder weniger genau nachweisbaren bio-physiklischen Schaltvorgängen im Gehirn gespiegelt werden. Die operable Einheit des Geschehens ist dieser Systemreferenz nach das „Feuern“ der Neuronen und das durch Feuern ausgelöste weitere Feuern anderer Neuronen, welche die beobachtbare Handlung auslösen. Da aber in den beteiligten Gehirnen nur Neuronenfeuer und nichts anderes passiert, stellt sich die Frage, wie die Illusion über ein abgrenztes Selbst zustande kommen kann. Das Gehirn jedenfalls kann keine Illusionen erzeugen.

Deshalb gehen wir von einem zweiten operativen Vorgang im dem emergent auf dem Gehirn aufruhenden Bewusstsein aus. Das Bewusstsein registriert Wahrnehmungen, die es für sich zu einem plausiblen und anschlussfähigen Sinn durch geregelte Ordnungsleistungen einer ihm sozial angelieferten Sprache verknüpft. Die beteiligten Personen sind sich im klaren über ihre Situation und darüber, welche Erwartungen wechselseitig vorliegen. Daraus folgt dann eine dritte Beschreibungsebene, die einen operativen und sinnvollen Kommunikationsablauf erklärt, durch den Handlung in einem sozialen Interaktionsystem erzeugt und als kommunikatives Handeln ausgewiesen werden.

Interessant ist nun, dass für eine neurobiologische Konzeption von Handlungen als natürliche Einheiten, die von Hirnforschern vollständig auf neuronales Geschehen zurück geführt werden, bislang keine anderen Argumente angeführt werden als die wiederholte Behauptung, dass es so sei. Aber auch Hirnforscher können sich nicht vom Ordnungsbereich sprachlicher Zusammenhänge verabschieden, von welchen jederzeit erkennbar ist, wie sehr sie durch Kontextverschiebungen durcheinander geraten. Sie können keine Position außerhalb dieses Raumes einnehmen, sondern sie bewegen sich vielmehr selbst mit ihren Analysen in dem Ordnungsbereich sprachlicher Zusammenhänge. Damit aber eine Neurowissenschaft ihre Operationen dauerhaft stabil halten kann, muss sie entweder alle relvanten Differenzen auf ihre Systemreferenz zurückführen oder einfach ignorieren. Anders verlöre sie ihre selbstreferenzielle Geschlossenheit.
Nimmt man außerdem die sozial determinierte Beobachtungssituation neurowissenschaftlicher Experimente hinzu, an denen ja auch Gehirne von Wissenschaftlern beteiligt sind und die ebenfalls soziale Interaktionssysteme bilden, kann man zu der klaren Einsicht kommen, wie wenig haltbar die reduktionistische Position der Hirnforscher tatsächlich ist. Handlungen als Kommunikationen, die sich auf dem Wege sozialer Zurechnung als Handlungen ausweisen  lassen, sind keineswegs allein Ergebnisse neuronaler Vorgänge; Handlungen sind sinnhaft strukturierte soziale Ereignisse, für deren Zustandekommen Bewusstein und Gehirn als Bedingungen notwendig sind.
Wenn nun aber die Forschungsergebnisse der Neurowissenschaft in Form von Technologien verfügbar werden, die es ermöglichen, Mensch-Maschine-Schnittstellen in das Gehirn hineinzuverlegen, dürfte bei nochmaligen Durchgang durch die oben ausgeführte Analyse sicher auch bald klar werden, was die Forschungen der Neurowissenschaften zuwege bringen werden, nämlich die Einsicht in die Illusion handelnder Subjekte, seien sie neuronal oder sozial determiniert.
Und von diesem Standpunkt aus stellt sich die Frage nach der Wahlfreiheit von Handlungen auf ganz andere Weise.

Vgl. zu diesen Überlegungen hier auch: Tim König: Handlung und System. Handlungs- und Willensfreiheit in systemtheoretischer Perspektive. Marburg 2009.

Siehe dazu auch folgende Artikel
Hirnbiologie, Robotik und Recht – Zur Zerrüttung sozialer Konstruktionen
Recht und Robotik