Kann ein Gehirn zwischen Wahrheit und Illusion wählen?
von Kusanowsky
Alles, was gegenwärtig zum Thema Willensfreiheit ja oder nein geschrieben wird, bedarf keiner intensiven archivalischen Betreuung, weil im Grunde alles bald ohnehin wieder auf den Tisch kommt. Die Argumentationsschleifen wiederholen sich alle paar Monate. Interessant ist dann nicht die Frage, was schon gesagt oder noch nicht gesagt wurde, sondern wichtig wird bald die Frage sein: wer hat noch nicht, wer will noch mal?
Eine neue Runde in diesen Diskussionsspiel findet sich heute in der Frankfurter Rundschau. Dabei handelt es sich um eine Replik des Strafrechtlers Michael Walters auf die Überlegungen von Gerhard Roth und Grischa Merkel, die aufgrund von neurowissenschaftlichen Forschungen über die Nichtnachweisbarkeit eines freien Willens die Ansicht vertreten, dass in Strafrechtssachen neue Überlegungen über den Umgang mit Straftätern angestellt werden müssten. Liest man diesen Artikel genau, stellt man fest, dass sich die Frage nach Beweis und Gegenbeweis hoffentlich bald auflösen wird und ein Gespräch über die Herkunft des Problems beginnen könnte. Aber soweit ist es noch nicht, weil der Autor, wenngleich schon gegen Ende des Artikels Abweichung von Argumentationsmustern bemerkbar macht, hartnäckig an einer äußerst liebgewonnenen Unterscheidungsroutine festhält: „Dennoch“, so schreibt der Jurist, „geht die moderne Psychologie von einer innerpersönlichen Instanz, einem Ich, aus, das den Umgang mit entsprechenden Vorerfahrungen regelt. Diese Prozesse können gestört sein, sie sind indessen in gewöhnlichen Fällen keineswegs ausgeschlossen. Wir können nicht zu passiven Opfern individualgeschichtlicher Vorfälle reduziert werden.“ Hat man also gerade erst bewiesen, dass es ein „Ich“ als zentrale Instanz irgendwo im Inneren von Menschen gar nicht geben kann, fängt mit der gegenteiligen Behauptung alles wieder von vorne an.
Man merkt sehr deutlich wie unzugänglich die Systeme für einander sind; sie verbleiben bei aller Irrtierbarkeit in den von ihnen jeweils präferierten Unterscheidungen, auch dann, wenn ihre Gültigkeit durch kein überzeugendes Verfahren verifiziert werden kann. In dem Fall bezieht man sich einfach auf ein: „Und dennoch ist es so.“ Die Systeme koppeln sich aneinander durch ein synchrones „Ja-nein-ja-nein“-Wechselspiel, das entlang von Differenzierungsroutinen entfaltet wird. Keines der System kann auf eine übergeordnete autoritative Ebene verweisen, durch die der Streitfall entschieden werden könnte. Entsprechend bleibt nichts anderes übrig als den alten Sisyphos um Rat zu bitten, um den Versuch zu wagen, sich selbst als oberste Entscheidungsinstanz letztendlich einzusetzen. Die Vergeblichkeit ist vorprogrammiert.
Interessant ist nun die Beobachtung von sogenannten „Denkfehlern“. Auch im hier zitierten Artikel ist von einem „Denkfehler“ die Rede, und – wie könnte es anders sein – findet man den Denkfehler immer als Vorwurf an andere. In dem Blogartikel von Postdramatiker zum selben Thema findet sich ebenfalls eine Irritation über einen Denkfehler, aber diese richtet sich dort auf die eigene Argumentation, die eine hübsche hypothetische Schleife vollzieht:
Wäre der positive naturwissenschaftlich-neurophysiologische Nachweis, dass es den freien Willen gibt, nicht zugleich der Beweis, dass es ihn nicht gibt? Denn unterlägen nicht die elektrophysiologischen Ereignisse, die als “freier Wille” zu interpretieren wären, den determinierten Gesetzen der “Natur”? Und würden also der Freiheit durch die Notwendigkeit ihrer eigenen Geltung die Existenz absprechen müssen? Sodaß das Ergebnis der naturwissenschaftlichen Betrachtungen eigentlich ist: Es ist möglich, dass es ihn gibt. Wenn es ihn gibt ist er nach gegenwärtigem Stand nicht messbar (weil es ihn ja sonst nicht geben könnte). Scheint mir schlüssig. Wo ist der Denkfehler?
Nicht wahr? Wo ist der Denkfehler? Denken wir uns, das Gehirn wäre der „Denker“? Könnte es fehlerhaft denken? Denken wir uns, das Gehirn wäre der Entscheider, könnte es fehlerhaft entscheiden? Wenn man annimmt, dass der Glaube an die Willensfreiheit nur eine Illusion ist, ein determinierter Wille aber die Wahrheit, dann hätte ein Gehirn beim Nachdenken über sich selbst immerhin die Wahl zwischen Wahrheit und Illusion.
An Ende des hier zitierten Artikels aus der Frankfurter Rundschau blitzt in der Argumentation von Walters ein erster Funke an Originalität auf. Er kommentiert die die Überlegungen von Roth und Merkel mit den Worten:
Denn die Freiheit verneinenden Ausführungen sind ja ersichtlich in der Absicht verfasst, die Leser in der Sache zu überzeugen und zu Folgeentscheidungen zu veranlassen, die aus besserer Einsicht und in freier Abwägung der Gesichtspunkte und Argumente getroffen werden. Auch wenn ich diesem Wunsch nicht nachkommen kann, mag ich mich des Schmunzelns darüber nicht zu erwehren, dass Roth/Merkel wenigstens in dieser Beziehung einen „Alternativismus“ für möglich halten.
Abgesehen von einem hübschen performativen Selbstwiderspruch, der sich auf die Unmöglichkeit einer nicht eigenwilligen Entscheidung bezieht, wird immerhin angemerkt, dass auch Neurowissenschaftler Alternativen zu formulieren imstande sind. Wie ihre Gehirne das auch immer hinbekommen sollten, weiß man nicht. Immerhin kann man bemerken, dass der Weg in die Problemfindung langsam möglich wird. Nicht die Frage, wer Recht hat, wäre entsprechend zu diskutieren, sondern wie die Entscheidungssituation, hier die Frage nach Wahrheit oder Illusion, überhaupt zustande kommen könnte. Wollte man die Beantwortung dieser Frage an ihre Gehirne adressieren, hätten die Diskutanten, ob pro oder contra das selbe Problem: Gehirne antworten nicht.
Siehe dazu auch folgenden Artikel
Handlung und Wahlfreiheit – eine Kurzanalyse
„Hirne antworten nicht“, klar – und schon gar nicht in Sprache. Von welchen Unsinnigkeiten die „wenig reflektierte Sprache“ (Peter Janiich in „Kein neues Menschenbild“) von Hirnforschern und sich an ihnen orientierenden Wissenschaftlern durchsetzt ist, kann jetzt in allen Details in diesem Wälzer nachgelesen werden: „Philosophische Grundlagen der Neurowissenschaften“ von Max Bennett und Peter M.S. Hacker (WBG, Darmstadt) – s. http://www.wbg-wissenverbindet.de/WBGShop/php/Proxy.php?purl=/wbg/products/show,8792.html
Man kommt nicht weiter, wenn man es dabei belässt, anderen lediglich „Unsinnigkeiten“ vorzuwerfen. Damit versucht man nur eine autoritative Ebene anzusprechen, die sicher stellen könnte, dass zwsichen Sinnigkeiten und Unsinnigkeiten treffsicher entschieden werden könnte. Aber es gibt für solche Streitfälle keinen Richter. Sich selbst zum Richter zu erheben heißt nur, triviale Subjektivität zu entfalten.
Sinnig- und Sinnlosigkeit sprachlicher Aussagen festzustellen, ist sehr wohl möglich. Sie aufzuzeigen und so anderen vorzuzeigen oder vorzuführen, heisst nicht oder zumindest nicht unbedingt, sie jemandem vorzuwerfen, sondern allenfalls sie ihnen vorzuhalten: zum Ansehen, Anschauen, zur Kenntnisnahme – mit dem aus- oder unausgesprochenen Appell, das eigene Reden zu überprüfen und dort zu ändern, wo es selbstwidersprüchlich konstruiert ist, vielleicht keinen akzeptablen oder nicht einmal einen nachvollziehbaren Sinn ergibt.
Sprachkritik hat ihren Bezug keineswegs in „trivialer Subjektivität„, sondern bezieht sich auf die Elemente der untersuchten Aussagen. Das sind und können nur sein die in ihnen verwendeten Wörter in ihrer gewöhnlichen – und insofern als allgemein bekannt anzunehmenden – Bedeutung sei es lexikalischer, sei es praktischer Art, diejenige Bedeutung also, der aus ihrer tatsächlichen Verwendung ersichtlich wird oder so nötig und möglich logisch erschlossen werden kann.
„Autorität“ ist dabei „die Sprache“ als das Gesamtsystem von Worten und der vielfältigen Regeln für ihren Gebrauch, wie es von Generationen von Sprechern herausgebildet und etabliert wurde, keineswegs also die jeweilige Autorenschaft der analysierten und selbst getätigten Aussagen. Sind und bleiben doch auch sie in Bezug auf dieses Sprachsystem selbst analysier- und kritisierbar!
Ein gutes Beispiel: die bei Suhrkamp soeben – zufällig oder nicht – ebenfalls in deutscher Übersetzung erschienene eingehende Diskussion der zentralen Ergebnisse, die Bennett und Hacker in ihrem oben genannten Werk präsentieren, mit Daniel Dennett und John Searle u.d.T. Neurowissenschaft und Philosophie – Gehirn, Geist und Sprache.
„Sinnig- und Sinnlosigkeit sprachlicher Aussagen festzustellen, ist sehr wohl möglich.“ Daran besteht nicht der geringste Zweifel.
„mit dem aus- oder unausgesprochenen Appell, das eigene Reden zu überprüfen und dort zu ändern, wo es selbstwidersprüchlich konstruiert ist, vielleicht keinen akzeptablen oder nicht einmal einen nachvollziehbaren Sinn ergibt.“ Appelle solcher Art werden erstens wahrscheinlich ignoriert und zweitens mit Gegenappellen gekontert: Überprüfe deine eigene Sprachkompetenz! Ein Beobachter kann feststellen, dass es keinem der Beteiligten gelingt, seine Kompetenz auf andere durchzusetzen. Damit ist auch gesagt, dass solche ständig scheiternden Versuche es eher wahrscheinich machen, es noch mal zu versuchen, statt den Beobachter zu beobachten und ihn nach Maßgabe seiner eigenen Postualte zu beurteilen. Man zeigt sich beharrlich indem man von der Kontingenz der eigenen Unterscheidung absieht. Diesen Verzicht nenne ich entfaltete Trivialität. Vgl. dazu auch folgenden Beitrag:
Zur Trivialität der Subjekt-Objekt-Unterscheidung
„Daran besteht nicht der geringste Zweifel“ – dass „Sinnig- und Sinnlosigkeit sprachlicher Aussagen festzustellen … sehr wohl möglich [ist].“
Dann sind wir uns ja einig!
„Dann sind wir uns ja einig!“ – Das glaube ich weniger. Es bleibt möglich zu behaupten, dass sich die Sonne um die Erde dreht; so wie es auch möglich bleibt, das Gegenteil zu behaupten. Der entschiedende Punkt ist, obs weiter führt. Und in dieser Hinsicht habe ich große Zweifel. Nichts ist so banal geworden wie die Selbstermächtigung der eigenen Urteilskompetenz; und nichts ist so schwierig wie etwas anspruchsvolleres in Erfahrung zu bringen.
[…] laufen?Womöglich geht es um eine, auch zukünftig nicht uninteressant werdende Diskussion, die die Frage nach der Willensfreiheit stellt. Die einen behaupten diese Willensfreiheit, die anderen bestreiten sie, aber keine Seite […]
[…] oder auch im Anschluss an die französische Philosophie von Derrida und Foucault. Und auch die Hirnforschung arbeitet daran, dem Selbstwertgefühl des Subjekts die eine oder andere Delle zu verpassen. All […]
Ein sehr interessanter Kommentar zu einem stimulierenden Artikel in der Frankfurter Rundschau.
Was mich zuweilen schreckt, ist genau dieses alternierende Denkfehler-Vorwerfen und die schief lächelnde Überheblichkeit, die ja auch in so Sätzen steckt wie jenem „…wird immerhin angemerkt, dass auch Neurowissenschaftler Alternativen zu formulieren imstande sind. “ Well, ist immer nur die eigene Disziplin die einzig wahre? Gerade in diesem Gebiet ist doch noch nichteinmal die richtige Fragestellung möglich, wenn man nicht Geistes- und Naturwissenschaften gemeinsam arbeiten lässt.
Und so enthielt auch ich mich nicht meiner eigenen Überheblichkeiten – dort:http://www.smarts-club.com/2011/10/my-guinea-pig-wants-beer.html
[…] oder auch im Anschluss an die französische Philosophie von Derrida und Foucault. Und auch die Hirnforschung arbeitet daran, dem Selbstwertgefühl des Subjekts die eine oder andere Delle zu verpassen. All […]