Differentia

Körper und Technik

Mit der Entfaltung eines interaktiven und körperlosen Netzes emergiert ein neuartiges Feld der Selbsterprobung, das Formen der Selbstinszenierung erlaubt, die ohne die Affektbewegungen des Körpers auskommen. Damit geht der Cyberspace über die bloße Ergänzung eines überlieferten Inventars an Kommunikationsmedien hinaus. Die Gesellschaft wird von einer raum- und zeitübergreifenden Infrastruktur überstülpt, die gleichsam imperial festlegt, welche Kommunikation mit Aussicht auf Erfolg begonnen werden kann und welche Kommunikation angesichts ungewisser Erfolgschancen eher unterbleiben muss. Alle Glaubwürdigkeit und Authentizität hat sich dem daraus resultierenden Bewährungsproblem auszuliefern, da alle subjektive Identitäsvorstellungen niemals ohne die Illusion einer Letztinstanz der Realitätsvermittlung auskommen kann. Der kommunikative Einsatz des Körpers ist dabei wesentlicher Bestandteil der imagepflegenden Identitätsarbeit.
Aber der Körper ist nicht nur die medial konstruierter Hülle für materielle Identität, sondern durch Performate simulierbarer und damit auch stets revidierbarer Identitätsausdruck einer Person. Damit taugt er nicht mehr uneingeschränkt als stabiles Ausdrucksmittel für Identität. Statt dessen benötigt der Körper nun seinerseits eine authentizitätssichernde Referenz, allerdings kann diese Referenz selbst nicht als unmittelbare, referenzlose Entität aus sich selbst heraus wirken können. Gemeint ist als Substitut der Raum als chorologisch fragementierte Struktur seiner Beobachtungsmöglichkeit, die durch eine Differenz von entschwinden und verbleiben von Adressaten operativ in Erscheinung tritt.

Soziologisch gesehen kann man die soziale Identität einer Person als ein Ensemble gleichzeitig besetzter Positionen, Rollen und Erwartungsmuster auffassen. Zur sozialen Identifizierung bedienen sich die Interaktionspartner dabei ausgefeilter Selbstbeschreibungen, die als Differenzierungs- oder auch Zugehörigkeitskonstrukt geltend gemacht werden und auf gegenseitige Beobachtung von Aufmerksamkeit angewiesen sind. Die Beachtung der Anderen wird durch eine Form der Selbstrepäsentation erreicht, die sich bestenfalls in effektvoller Selbstinszenierung niederschlägt.

Der aufmerksamkeitbindende Vorgang der habituellen Symbolisierung war in der Gutenberg-Galaxy maßgeblich auf die Präsenz des Physischen angewiesen. Ohne den Körper konnte man sich nicht sozial positionieren. Der Körper galt in jeder Interaktion als unhintergehbare Instanz aller Zeichenrepräsentation, die beabsichtigt oder unbeabsichtigt den Kommunikationsprozess affektiv beeinflusste. Der subtile Umgang mit der Haltung und der Stellung des Körpers wurden unablässig registriert und sanktioniert, so dass der körperliche Ausdruck als eingebautes, unverfälschbares Anzeigeinstrument in Erscheinung trat. Seitdem sich aber herum gesprochen hat, dass der Körper keineswegs durch eine naturhafte Wesenheit determieniert ist, sondern durch medial vermittelte Bilder und Konstrukte bestimmt wird,  tritt an die Stelle eines naturhaften Körperverständnisses der optionale Körper. Die Verschmelzung von Körper und Technik erlaubt nicht nur die nahezu unbegrenzte Modellierbarkeit des Leibes, sondern schafft auch ein neues Körpererleben. Obendrein ist für die Stabilisierung sozialer Beziehungen nicht einmal mehr die Anwesenheit entscheidend, sondern allein die Erreichbarkeit einer Person.

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Entschwinden und verbleiben

Es ist bis heute kaum abzuschätzen, welche Lernprozesse die Gesellschaft durchlaufen muss, um mit dem Erfahrungswandel, den das Internet nach sich zieht, Schritt halten zu können. Die Industriegesellschaft zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass der gesamte Bereich der Warenproduktion und die sich darum herum aufbauenden Systeme ein spezifisches Verhältnis zur menschlichen Körperumwelt einrichten mussten. Dabei ging es in erster Linie um die Verfügung über Körper ohne die Zugriffsmöglichkeit eines Körpers auf einen anderen. So ist es kein Wunder, wenn man eine simultan ablaufenden Steigerung von Körperverdrängung und Körperaufwertung in der modernen Gesellschaft feststellen kann. Um den Körper auf den Bildschirm dieser Gesellschaft zu bekommen, erscheinen Menschen im allgemeinen und Körper und Psyche im besonderen als Umweltfaktoren für funktional-differenzierte Teilsysteme. Die evolutionäre Möglichkeit dieser funktional ausdifferenzierten Teilsysteme besteht nun in ihrer Möglichkeit, über sich selbst zu reflektieren und dies in die Systemgestaltung einfließen zu lassen, indem man etwa danach fragt, wie über den Körper und das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft kommuniziert wird. Geht man von einer begrenzten Resonanzfähigkeit der Gesellschaft gegenüber ihrer Personen- und Körperumwelt aus, so fallen vor allem auf die Paradoxien von Körperaufwertung und Körperverdrängung auf, sobald die Gesellschaft mit Körperthematisierung auf sich selbst und ihre Defizite reagiert.

Der Körper scheint zu einem Symbol für eine noch kontrollierbare Wirklichkeit, zum Vehikel für Selbstbehauptungsstrategien und Kausalitätserfahrungen, zur einer Sinninstanz zu werden, an der sich eine Vielzahl von Spezialisten zu schaffen machen. Zwar treten manche dieser Körperspezialisten mit dem Anspruch auf, eine wie auch immer geartete Ganzheitlichkeit des Körpers zu betrachten, doch möchte man vermuten, dass auch die Spezialisierung auf das scheinbar Unspezialisierte eine Spezialisierung ganz im Sinne der modernen Gesellschaft ist. Gleichzeitig wird deutlich, dass diese Simultanpräsenz von Körperverdrängung und Körperaufwertung nicht als Nullsumenspiel funktioniert. Sie scheint als Daueraufgabe bestehen zu bleiben, insbesondere unter Berücksichtigung virtueller Kommunikationsmöglichkeiten. Die ökonomische Kolonisierung des Körpers hat zur Herstellung sich selbst reflektiertender Identitätsvorstellungen geführt und diese Strukturbildungen bilden die entscheidende Grundlage für die Ausgestaltung von Körperinszenierungssimulationen.

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