Überlegungen zur Dämonie digitaler Medienpraxis IV
Ein auffälliges Merkmal der modernen Gesellschaft ist die Zunahme von nicht-literarischen Fiktionen. Das betrifft die politische Öffentlichkeit genauso wie die Fiktionen des Infotainments oder die Public-Relations-Aktivitäten im Auftrag von Unternehmen. Ein genaue Abgrenzung zwischen Fakten und Fiktionen hat schon lange keine theoretische Relevanz mehr.
Ein Faktum wurde verstanden als wiederholbare, nichtkontingente Zurückgewinnung eines Unterschieds, der keinen weiteren Unterschied zulässt: reine Fakten. Zweifellos sind solche Operationen immer suspekt gewesen, weil mit dem Bestehen auf Reinheit der Fakten immer ein Kontext weiter verschoben wurde, der Kontextlosigkeit akzentuierte. Eine Meinung wurde dagegen explizit an ihren Kontext geknüpft, womit andersherum jede Kontextabhängigkeit bei der Weitergabe im voraus mitgegeben wurde. In beiden Fällen waren so rekursive Sinnverweisungen auf Kontextkontextualität möglich: Faktum als uneindeutige Eindeutigkeit der Mitteilung, Meinung umgekehrt als eindeutige Uneindeutigkeit. Diese doppelte Paradoxie findet in nahezu allen Systemen eine anschlussfähige Referenz, weshalb man vermuten kann, dass eine Mediengesellschaft auf einer Vielzahl operativer Fiktionen basiert, deren Autopoiesis auf das Funktionieren nicht-trivialer Fiktionsmaschinen angewiesen ist. Diese nicht-trivialen Fiktionsmaschinen sind dadurch enstanden, dass sie im Laufe ihrer Evolution von Interaktionen mit der Umwelt auf Selbstreferenz umgestellt haben. Für eine Mediengesellschaft bedeutet das, dass ihre Fiktionen eine Autonomie durch operationale Schließung erhalten und auf diese Weise sich durch eine Funktionalisierung von Fiktionen dauerhaft zu reproduzieren vermögen.
Mit der Zerrüttung des Dokumentschemas hat eine Umstrukturierung eines ganzen Arsenals an Referenzkategorien stattgefunden. Die überlieferten Selektionsroutinen, die mit Differenzen von wahr/falsch, Wahrheit/Lüge, wirklich/unwirklich, echt/unecht operierten, wurden mit der ab dem 18. Jahrhundert einsetzenden Etablierung von Differenzen der Fiktionalität auf eine andere Bedeutungsebene verwiesen, da Fiktionalität innerhalb eines dokumentarischen Beobachtungsschemas keine Aussagequalität hat, sondern eine Diskursqualität, die für eine vollständige Umänderung von Anschlussfindungen sorgte. Fiktionale Dokumente konnten alle möglichen Aussagen enthalten: Beschreibungen, Behauptungen, Erklärungen, Lügen, Wahrheiten und so weiter. Die überlieferten Zentralkategorien von Wahrheit und Wirklichkeit wurden nun mit einer Option konfrontiert, die nicht mehr nur auf ihr Gegenteil verwies, sondern auf eine Alternartive zum sozial sanktionierten Wirklichkeitsmodell. Durch die Alterität fiktionaler Dokumentproduktion, wie sie besonders deutlich im bürgerlichen Roman zutage trat, konten nun alle Modi, Werte, Kategorien und Methoden der Wirklichkeitskontruktion zwischen Realistik und Surrealität durchgespielt und dabei die unterschiedlichsten Formen von Wahrheiten angeboten werden, und zwar so lange wie die Fiktionalitätsqualität dieses speziellen Diskurses erkennbar und gewahrt blieb. So lange also mit der Verwendung von Fiktionen das Dokumentschema reflexiv gesteigert werden konnte, verblieben alle Rekursionen bei Beurteilungsweisen, die zwischen dokumentiert und nicht-dokumentiert unterschieden, womit aber zugleich eine unüberschaubare und durch keine einheitliche Referenz zusammen gehaltene Diskurswirklichkeiten entstanden, die mit der Durchsetzung elektronischer Verbreitungswege nach und nach in Simulationen überführt wurden.