Dissimulation als Skandalisierungsverfahren virtueller Realität

Wenn für das dokumentarische Beobachtungsschema die Nachweisbarkeit als Erlösung aus einem unhaltbaren metaphysischen Wahrheitsanspruch auftrat, erschien in der Folge die Manipulation als Skandal, als nicht aus der Welt zu schaffende Auflehnung gegen die Annahme einer voraussetzungslos symmetrischen Identitäsvorstellung, die sich aus dem Vergleich von Original und Kopie ergab. Für all die daraus resultierenden Streitigkeiten, die eine Differenz von Verstehen immer wieder problematisierten, gibt es keine andere Lösung als die, auf die Fortsetzung des Streits zu verzichten. Und wo dies nicht vorzeitig und schmerzfrei geschieht  wird dies durch einen Zwang der Verhältnisse hergestellt, die einen anderen Ausweg eröffnen und damit einen neuen Horizont an Möglichkeiten aufreißen, die durch Sublimierung neue Attraktoren heraus bilden. Wer noch auf Authentizität, Wahrhaftigkeit, Vernunft und Verständigkeit beharren will, wird sich von Bastlern und Tüftlern darüber belehren lassen müssen, dass innerhalb der Enge strukturdeterminierter Systeme immer ein, wenn auch noch sehr bescheidenes, Fenster von Sinnüberschüssen geöffnet bleibt, das durch ein fortwährendes Scheitern an Reflexionsverstärkungversuchen einen ausreichenden Spalt für die Etablierung von Innovationen schafft. Zwar geht die Welt nicht unter, aber wenn sie weiter geht, wird niemand um sein Einverständnis gebeten.

Statt also Manipulation immer noch zu skandalisieren wird gegenwärtig schon damit experimentiert, Dokumentation durch Simulation zu ersetzen. Die Produktion von Realität durch Simulation basiert auf einer digitalen Matrix von verschiedenen kombinierbaren Befehlsketten und lässt sich beliebig oft reproduzieren. Ansprüche an Rationalität werden an eine Simulation nicht mehr gestellt, da ihre Operativität nicht mehr an einer erwünschten oder verwünschten Instanz gemessen werden kann. Die Unterscheidung von real und fiktiv wird in die Simulation hinein gelegt und gewinnt durch die Simulation einen Direktionswert für alle Anschlussoperationen. Auf diese Weise entsteht die Ausbreitung einer – wie von Baudrillard bereits beschriebenen – Hyperrealität, die sich dadurch auszeichnet, dass von ihr alle dokumentarische Referenzialität liquidiert wird. Es geht dabei nur in spielerischer Hinsicht – wie bei Second Life – um Imitation, um Verdoppelung oder um Parodie. Erweisen sich Simulationen aber als anschlussfähig für extern-funktionale Systembeziehungen, zeigen sie zugleich durch Emergenz von Verbindung und Verbindlichkeit eine Schicksalsfähigkeit, an der sich alle Dissuation genauso zu messen hat wie wie alle Persuasion. Deshalb ist nicht nur die Frage interessant, welches Problem durch Simulationen gelöst wird, sondern auch, welches Problem dadurch entsteht.

Eine soziale Akzeptanz von Simulation spielt sich ein durch ein gegenseitiges Zugeständnis an Identitäsverschleierungen aller Art. Das betrifft nicht nur die Identität von Personen, sondern auch die Identität von Lokalität, Temporalität und Kausalität. Durch Simulation werden Maskierungs- und Täuschungsverfahren legitim. Wenn Simulation hergeleitet wird aus einem Verständnis, etwas zu zeigen, das nicht so ist, wie es ist, und wenn daraus außerhalb eines spielerischen Charakters Verbindlichkeiten entstehen, die damit rechnen, dass ein Gegenüber nicht das ist oder hat, was er vorgibt zu sein oder zu haben, entsteht durch doppelte Kontingenz gleichsam ein Friedensvertrag, der alle Manipulation in der Weise regelt, dass mit ihr immer schon gerechnet wird. Jeder weitere Versuch der Manipulation scheitert gleichsam an der double-bind-Anweisung: „Manipuliere mich!“ Und sofern damit die Unhaltbarkeiten eines dokumentarisch beschreibaren Realitätsverständnisses überwunden werden, bekommt man es mit einer Lösung zu tun, die in der Dissimulation ihr Problem findet. Dissimulation heißt ja, etwas, das man hat oder ist, nicht zu zeigen, womit ein eingepielter Friedensvertrag, der ja selbst keinen dokumentarischen Charakter hat, dämonisch unterlaufen werden kann.