Die Welt als Ware und Vorstellung
Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.
Diese berühmt gewordene 11. der „Thesen über Feuerbach“ von Karl Marx ist in den letzten 150 Jahren häufig interpretiert worden; meistens dahingehend, dass es angeblich die exklusive Aufgabe marxistischer Revolutionäre wäre, die Welt so zu verändern, wie sie sie nach eigenem Ermessen interpretieren. Damit wäre das Trauma einer marxistischen Weltdeutungsideologie beschrieben: sich selbst an die Stelle der von Marx kritisierten Philosophen zu setzen und das zu betreiben, was Marx ihnen vorwarf. Dabei konnte nicht bemerkt werden, dass sie die Welt nicht verändert haben, sondern die Welt sich mit ihnen verändert hat und zwar ohne sie zu fragen, ob das ihrer Interpretation entspricht oder nicht.
Man könnte sich in der Folge auf die Wiederholung nicht enden wollender Interpretationsdispute einlassen, wenn man ernsthaft glauben wollte, dass Meinungskämpfe – wie sie Marxisten bis heute unverdrossen führen möchten, wie dieses Weblog beispielsweise zeigt – irgendetwas Weiterführendes erbringen.
Stattdessen kommt einem unerschrockenen Beobachter die Frage in den Sinn, wie denn der Streit um die Wahrheit des Textes, die Interpretierbarkeit der Welt, sofern sie durch Texte, in Büchern abgedruckt, in Erscheinung tritt, überhaupt möglich wird.
Dass Philosophen, das gilt auch für die marxistischen Philosophen, die Welt nur verschieden interpretiert haben, könnte man ihnen zum Vorwurf machen; man könnte aber fragen, warum sie auch im Anschluss an Marx nichts anderes vermochten. Ein Antwort auf diese Frage würde zugleich das Scheitern des philosophischen Marxismus erklären.

Das Kapital, Karl Marx, Titelseite der Erstausgabe. Marxistische Philosophen können die Warenstruktur von Büchern nicht verändern. Bild: Wikipedia
Eine Kurzantwort könnte lauten: Niemandem ist es bis heute gelungen, diese 11. Feuerbachthese zu verändern. Sie wurde durch inflationäre Interpretation trivialisiert und scheint für eine Art, wenn auch bestreitbarer Wahrheit zu stehen, die zu begründen oder zu bezweifeln sich immer noch lohnen könnte.
Ein Diskurs, der sich um Interpretation bemüht, fällt auf die, von Marx sehr hellsichtig beschriebene Warenstruktur herein. Der Warenproduktionsprozess, das gilt auch für die Produktion von Büchern, erzeugt aus sich selbst heraus etwas anderes als das, was durch das Zusammentreffen hoch komplexer Umweltbedingen für ein Beobachtungssystem beschreibbar wird. Die Ware ist nach Marx eine emergente, soziale Realität und lässt sich nicht auf die Elemente zurückführen, aus denen durch Relationierung im Produktionsprozess Waren entstehen. Wenn aber unter gegenteiligen Voraussetzungen der Warenproduktionsprozess beschrieben wird, kommt man immer nur zu dem Ergebnis, es handele sich bei der Ware um ein Ding, dessen Erklärbarkeit und Interpretierbarkeit außerhalb dessen liege, was es seiner Natur nach darstelle. Seiner Natur nach ist das so entstehende Ding aber eine soziale Konstruktion; und nur als solche kann sie überhaupt einem Beobachter auffallen. Folgt man Marx in der Argumentation, dass dieser Fetischcharakter der Ware schließlich die ganze Gesellschaft überformt, dass also alles mit der Warenstruktur überzogen wird, so wird klar, warum die Philosophen nichts anderes vermögen als mit ihren Interpretationen weiterzumachen: sie haben keine Erklärung für die Welt, da sie sich ihnen als unaufhörlicher sozialer Veränderungsprozess irgendwie „objektiv“, verdinglicht, also durch Beurteilung von Waren, hier: von Büchern, entgegenstellt. Die für sie verstehbare Welt besteht aus Büchern, deren Warenstruktur sie nicht verändern können.
Es kömmt aber darauf an, dies zu tun.