Differentia

Wikileaks – Metapher und Methode

Mit der aktuellen Veröffentlichung von vielen tausend Dokumenten über den Afghanistan-Krieg haben die whistleblower einen Volltreffer gelandet. Nach dem größten Terroranschlag aller Zeiten, der für den Afgahistan-Krieg zum Vorwand genommen wurde, folgt nun der größte Enthüllungsskandal aller Zeiten. Und es darf in diesem Zusammenhang die Frage gestellt werden, wofür dieser größte Enthüllungsskandal zum Vorwand genommen wird.
Das moderne Beobachtungsschema, wodurch sich alle Realitätsfragen ergeben, ist der Unterschied von dokumentiert/nicht-dokumentiert. Die Belastbarkeit und die daraus resultierende Bewährungsprobe dieses Schemas besteht darin, dass es sich entlag weiterer Unterscheidungsroutinen bewähren muss, Unterscheidungsroutinen, die Unterschiede von verständlich/unverständlich, privat/öffentlich, bekannt/unbekannt oder eben auch geheim/öffentlich betreffen.

Noch bevor es einen modernen Journalismus gab war die Frage, wer was geheimhalten bzw. veröffentlich kann eine Frage der Macht; und auch früher ging es dabei nur vordergründig um die Frage, was geheim gehalten wurde. Der Entzug von Dokumenten, der ja nur dadurch auffallen kann, wenn er woanders dokumentiert ist, ist so gesehen nichts besonderes. Interessant an Wikileaks ist deshalb weniger, dass hier eine Machtprobe vorgenommen wird, sondern, dass die Herausforderer von Wikileaks dämonisch handeln, also keine Legitimationsdokumente aus etablierten Garantiestrukturen nachweisen können; sie handeln eigenmächtig; sie entwickeln Parallelwelt-Referenzen für „Glaubwürdigkeit“. Allerdings sind diese Entwicklungen parasitär, weil sie die Schwachstellen (Leaks), die durch reflexivitätsverstärkende Belastung des dokumentarischen Beobachtungsschemas entstehen, umdirigieren können.
Insofern ist Wikileaks eine ganz hervorragend gewählte Metapher für das, was man an diesem Skandal beobachten kann. Es kommt hinzu, dass dieser gigantische Datenklau von Wikileaks gerade dadurch möglich wird, dass die Dokumente bereits digital erfasst waren, wodurch die Schwachstelle noch einmal belastet wird. Digital erfasste Daten haben keinen Trägerkörper mehr und erfordern einen verhältnismäßig geringen Arbeitsaufwand, um verwaltet zu werden. Zur Verwaltung gehört auch das Kopieren. Man denke sich, welcher Aufwand an Manpower nötig gewesen wäre, um eine vergleichbare Menge an Daten per Aktenordner zu übergeben. Das zeigt, wie schwach die Stelle geworden ist. Sie ist so schwach, dass diese Dokumente als digital abrufbare Informationen ihren dokumentarischen Wert gleichsam verlieren, da ob der riesigen Menge an Informationen kaum ein verlässlicher Überblick darüber zu gewinnnen ist, was anderweitig schon ganz oder in Teilen bekannt war. Gerade das gigantische Ausmaß des Datenklaus zeigt, wie stark die apokalyptische Funktion der modernen Medienwelt an Stabilität verliert, indem die schiere Menge an Daten einer retroreferenziellen Konsistenzprüfung einen Riegel vorschiebt. Insofern erscheint die Wikileak-Methode als eine Art Trojaner, der auf dem Umweg der Affirmation des Dokumentenschemas die Dämonie der digitalen Medienrevolution in Legitimität überführt.

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Laufen, werfen, springen, dopen

In soziologischen Theoriefindungsversuchen ist gelegentlich die Überlegung geäußert worden, dass die Attraktivität des Sports in der Inszenierung von Überschaubarkeiten liegt, wobei diese Attraktivität in einem Missverhältnis zur Komplexität einer funktional-differenzierten Gesellschaft steht. Wo sonst im Leben geht es um die Einfachheit einer klaren Urteilsbildung, die über gewinnen und verlieren eindeutig entscheiden kann?
So abwegig sind diese Überlegungen nicht, da man ja erkennen kann, dass der Sport einen Sozialbereich aufspannt, der Kausalitäten eindeutig beobachtbar macht, was deshalb so attraktiv scheint, weil eine solche Eindeutigkeit im normalen Leben sonst kaum vorkommt und daher eine Sehnsucht zu geringer Komplexität erzeugt, die im Sport als Fairness zutage tritt. Im Sport geschieht dies über die Verwendung des Körpers als Schema, das zum Zweck der Beobachtbarkeit diesen besonders exponiert. Über die Beobachtbarkeit des Sportlerkörpers codieren sich die Ereignisse entlang der Unterscheidung von Sieg und Niederlage, womit Eindeutigkeit in das System eingeführt wird, die sich nicht mit einem Beobachtungsschema der wirtschaftlichen Konkurrenz vergleichen lässt. Sport macht Entscheidungen beurteilbar und erwartbar. Genau genommen bezieht sich dabei die Erwartbarkeit auf die Entscheidbarkeit und nicht auf die Entscheidung selbst. Es wird erwartet, dass entschieden wird und dass diese Entscheidung nachvollziehbar, idealerweise also vollständig transparent ist. Das ist ein wichtiger Punkt, der die Fairness berührt: Sport ist entscheidungsoffen. Alles andere, so könnte man vermuten, würde den Sport zerstören, weil er damit nicht mehr von anderen Sozialbereichen des alltäglichen Lebens unterscheidbar wäre. Nichtwissen einerseits, Entscheidungsklarheit und Entscheidungsnotwendigkeit andererseits wirken wie ein Attraktor, der die Aufmerksamkeitsbereitschaft stimuliert.

Will man diesen Überlegungen folgen, wird sogleich klar, welche Inkommunikabilitäten durch Dopingskandale und ihnen zugeordnete Debatten erzeugt werden.
Die Systemparadoxie des Sports besteht darin, dass er eine Art Simplexität erfolgreich inszeniert und diese inszenieren muss, und zugleich als System eine beachtliche Komplexität aufweist, die mit anderen sozialen Systemen jeden Vergleich standhält. Das beständige Scheitern von Dopingkontrollen indiziert diese Komplexität aus Verfahrensregelungen, medizinischen und juristischen Implikationen, Zuschaueraufmerksamkeit, Sponsoreninteressen und Verläufe von Sportlerkarrieren. Der ab und zu gemachte Vorschlag, sich ob dieser Komplexität geschlagen zu geben und Doping im Wettkampf zuzulassen, weil damit die Fairness durch Akzeptanz des Nichtzuverhindernden wieder eingeführt wird, kann nicht akzeptbabel sein, weil der sich daran anschließende Komplexitätsaufbau das Zuschauerinteresse überstrapazieren würde. Denn Sport funktioniert nicht, wenn Sportler, Trainer und Fachexperten unter sich blieben, sondern nur, wenn er seinen Inklusionsbereich enorm ausweiten kann, was nur gelingt, solange er seine ganze Komplexität als Simplexität illusionieren kann.

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