Moral ist keine Lösung #ethik #diabolik #systemtheorie
von Kusanowsky
zurück zu Unverzichtbarkeit der Moral
Es gibt verschiedene Herangehensweisen, um den Unterschied zwischen einer Theorie der Moral und einer Reflexionstheorie der Moral zu beschreiben. Eine Möglichkeit wäre, dass eine Theorie der Moral, sofern sie nicht nur ein Ergebnis moralischer Kommunikation ist, die Funktion und Form von Moral ermittelt, sonst aber kaum etwas Verbindliches darüber aussagen kann, wie man zu leben, wie man zu wollen und zu sollen hat. In diesem Verständnis ist Moral angesiedelt in der Differenz von zwischenmenschlicher und sozialer Interpenetration, indem die Systeme ihre Interpenetrationsbereitschaft über die Zurechnung von Wert- und Geringschätzung regulieren.
Die Schwierigkeiten der Reflexionstheorie treten dadurch auf, dass man sie typischerweise auf Systeme bezieht, also als eine Form auffaßt, durch die ein System sich in sich selbst auf sich selbst wie an einer Identität orientiert. Eine Reflexionstheorie ist deshalb systemrelativ, simplifizierend und spezialisierend, aber auf keinen Fall totalisierend.
Reflexionstheorien sind systemrelativ. Nun ist aber Moral kein System, sondern zirkuliert als moralische Kommunikation und kondensiert an geeigneten Verzweigung der Funktionssysteme, um ihren Weiterbetrieb zu garantieren.
Es ist aber nicht einfach so, dass man Moralisieren als elementare Einheit eines Systems, das sich auf der Basis von Moral autopoietisch zusammenschließt, aufzufassen könnte, entsprechend könnte Moral keine eigene Reflexionstheorie entwickeln. Das Problem liegt vieleicht in dem Wörtchen „eigene“. Ist damit eine spezifische Reflexionstheorie gemeint? Oder könnte man vermuten, das „eigene“ Probleme mit den spezifischen Problemen wie etwa Paradoxien identifiziert werden, welche die moralische Kommunikation selbst herstellt? Es könnten vielleicht auch von woandersher Reflexionen kommen, etwa aus der Philosophie, aus der Theologie oder woher auch immer, die sich mit dieser Sozialform befassen, aber nicht selbst diese Sozialform identisch sind.
Sind Spiegel nicht immer woanders als das sich spiegelnde System? Wie wäre umgekehrt eine in-sich-selbst-Spiegelung der Moral denkbar? Etwa wie bei Sokrates, dessen Beobachtungen moralischer Urteile an Implikationen dieser Urteile gespiegelt werden? Das würde jedenfalls erklären, warum Ethiken, wenn sie sich selbst unter Achtungsbedingungen setzen, von einer Auslassung zehren, die als ein zirkuläres oder paradoxes Problem erscheint: Ist Ethik selbst moralisch geboten oder nicht? Ethiker würden hier zustimmen, weil sie die verschiedenen Moralen moralisch unterscheiden und eben bestimmte achten und andere ächten wollen. Das würde dann für jede Moral gelten, die sich unvermeidlich selbst gegenüber anderen präferieren will.
Ein wichtiger Punkt bleibt aber der problematische Übergang von der Reflexion zur Durchsetzung moralischer Optionen. Wäre Moral System, dann wäre das im System entschieden. Die Lösung, die Moral dann bereitstellen könnte in Hinsicht auf ihre Funktionalität als System, hätte folglich ihr Problem gefunden. Aber: das ist empirisch nicht beobachtbar, dass Moral als Lösung funktioniert.
Allenfalls würde ich noch vermuten, dass Moral als Lösung insofern funktioniert, da ihre Verzichtbarkeit ständig überlebt, weil durch Moral immer mehr Probleme erzeugt als gelöst werden können.
I post this previous comment from Ricardo (a pity he has not filled in any contactinfomration) as there has been no response:
To me the problem of morality (ethics) in L’s theory stems from
(1) A tendency with L and maybe more so with his followers to discern (functional) systems wherever and whenever possible.
(2) The fundamental problem that L sees religious systems (believe/non believe) as separate from ideological systems which he does not describe at all (to my limited knowledge). For me there are only ideological systems (believe/non believe). Religions are special cases thereof.
For me moral/ethics are an integral part of the ideological system. As long as one believes in ideology X one has to measure actions against the moral values that come with it. As long as I am a (ultra)liberal of Libertarian I have to say that “greed is good”. As long as I am a Christian I’ll have to say that “I love my enemies”. Of course there is the possibility that an individual changes from one ideology to another. Or maybe he can concoct his own by shopping around. The “choice” of ideology is mainly governed by the “truth-function” of the ideology: the measure wherein the story does a better job in “explaining” past, present and future of the subject and the way wherein its morals are working, can be upheld in daily life. So there should be a tendency that fosters ideologies that are more in accordance with science.
Ricardo – 27. September 2012 um 22:22
@Ricardo I couldn’t agree more and was about to write the same thing. In fact I have mailed Kusanowsky about a year ago on this matter. He and other diehard Luhmann followers ignore this critisism on Luhmann. This is nog very productive. Please contact me via twitter.
@Victor
Der Artikel beginnt mit den Worten: „Es gibt verschiedene Herangehensweisen, um den Unterschied zwischen einer Theorie der Moral und einer Reflexionstheorie der Moral zu beschreiben.“
„He and other diehard Luhmann followers ignore this critisism on Luhmann.“
Ich kann dir nicht helfen, denn auch Ideologie kann man mit sehr verschiedenen Unterscheidungen beschreiben. Mein Vorschlag (keine Vorschrift) wäre zunächst ganz allgemein zwischen Erklärungstheorien und Rechtfertigungstheorien zu unterscheiden. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Theoriekonstruktionen betrifft eine durch Evolution angelieferte Situation, in der sich sowohl Probleme als auch Lösungen heraus stellen und durch den Fortgang der Evolution zueinander finden oder sich auseinander entwickeln. Erklärungstheorien liefern Lösungen für Probleme, die aus den Unterscheidungen, durch welche sich diese Probleme ergeben haben, nicht notwendigerweise hervorgehen. Erklärungstheorien sind Emergenzphänome, die zwar in der Kontingenz der Problemsituation irgendwie enthalten sein mögen, die aber nicht vollständig auf sie reduziert werden können. Deshalb entstehen Erklärungstheorien auf der Basis einer entropischen Problemsituation und sie entstehen überraschend. Für die moderne Gesellschaft möchte ich annehmen, dass sich die Transzedententalphilosophie als eine solche Erklärungstheorie ab dem 15./16./17. abzuzeichnen begann. Sie lieferte Lösungen für eine Vielzahl von Problemen, die sich bis dahin angehäuft hatten, aber eine Transzendentalphilosophie konnte eine soziale Ordnung nur provozieren, nicht durchsetzen und ist erst dann infolge ihrer Leistungsfähigkeit selbst zum Machtkonzept avanciert. So passierte es, dass diese Erklräungstheorie seit den Industrialisierung in eine Rechtfertigungstheorie umgearbeitet wurde, was deshalb geschah, da seit dieser Zeit durch den Erfolg der Transzendentalphilosophie eine gänzlich neue Problemsituation entstanden war und zwar dadurch, dass die Unterscheidungen dieser Philosophie nicht mehr gegen anderes, zurückliegendes, konkurrierendes durchgesetzt werden mussten, sondern gegen sich selbst. Die Provokation von Ordnung durch Erklärung wandelte sich um in die Verteidigung von Ordnung durch Rechtfertigung.
Als Ideologie würde die Einheit dieser Unterscheidung bezeichnen: Ideologie ist die Einheit der Unterscheidung von Erklärungstheorie und Rechtfertigungstheorie.
Ich glaube nicht, dass ich mit dieser Überlegung in deine Kiste der hardboiled Luhmann-Scholastiker passe. Diese Scholastik ist nämlich selbst eine Rechtfertigungstheorie, weil sie in Strukturen der Rechtfertigung eingelassen ist und nur aus diesen Strukturen („fungierende Ontologie“ * wie Peter Fuchs es nennt) die Differenzen entimmt, um sich gegen diese Strukturen zu behaupten ohne die transzendentalphilosophisch geprägten Entscheidungsverfahren der Diskriminierung zu unterlaufen zu können, geschweige denn zu wollen. Diese Luhmann-Scholastik ist Rechtfertigung für Transzendentalphilosophie durch Negation derselben. Die Scholastik ist auf gleiche Weise in eine für sie selbst unbeobachte Ideologie eingebettet, weil sie keine Unterscheidung findet, mit der sie die Attraktivität der Luhmannschen Unterscheidungen erklären kann. Sie kann nur diese Unterscheidung empfehlen, bewerben, propagieren, sie kann nur den noch letzten möglichen Versuch wagen, die Ordnung zu verteidigen.
Hier habe ich einen anonymen Systemtheoretiker entdeckt, der sich auf solche Verteidungsversuche noch einlassen will: Kontingenz, Kritik und das Internet
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http://www.uboeschenstein.ch/texte/fuchs11.html
„es würde jedenfalls erklären, warum Ethiken, wenn sie sich selbst unter Achtungsbedingungen setzen, von einer Auslassung zehren, die als ein zirkuläres oder paradoxes Problem erscheint: Ist Ethik selbst moralisch geboten oder nicht? “
Begreift man Ethik wie Moral spielerisch vom Wortsinne her, so meint das eine ethos, altgriechisch die Bleibe, den Aufenthalt, das Habitat. Und davon abgeleitet die Art und Weise wie man bleibt, sich hält, den Brauch und die Sitte. Die Haltung und den Habitus. (In diesem Sinne übersetzt Heidegger auch das heraklitische Fragment ήθος όνθρύπφ δαίμων [ethos anthropoi daimon] abweichend von Diels/Kranz nicht mit: Seine Eigenart ist dem Menschen sein Dämon, sondern mit: „Der (geheure) Aufenthalt ist dem Menschen das Offene für die Anwesung des Gottes (des Un-geheuren).“ (Heidegger BH, 356))
Moral, von mos, mores, ist die seit Cicero eingebürgerte lateinische Übersetzung von ehtiké und heisst auch Sitte, Brauch, ganz allgemein: Art und Weise (Modus).
Was spricht also dagegen diese Kategorien so tief zu legen, dass sich sie mit der, sich in Zweiwertigkeit vollziehenden Autopoeisis eines jeden Systems deckt?
Achtung/Nichtachtung(Miß- oder Verachtung) ist geheime die Grundlage aller systemischen, die Selektion aussteuernden Codierung, bei der sich Selektivität vollzieht über die Doppelheit von Akzeptions und Rejektionswert. Dabei die Welt spaltet in solches, das der je eigenen Kommunikation einverleibt werden kann, d.i. sich ihrgegenüber anschlussfähig erweist und solches, was verschmäht werden muss. Vielleicht nicht exkludiert, so aber doch auch nicht inkludiert wird.
Jede Ethik wie wir sie kennen, muss sich ja nun ihrerseits, gerade auch dort wo solche notwendige Nichtinklusion problematisiert werden soll (und am Ende die Nichtinklusion der Nichtinklusion gefordert wird), dieser Proto-Ethik (die zusammenfällt mit dem Zwang, selektieren zu müssen) bedienen.
@Kusanowsky
Was soll man einem „diehard Luhmann follower“ ins Stammbuch schreiben? Vielleicht „die hard, but fair“? Jedenfalls betrachte ich das Statement von VictorOnrust durchaus als Kompliment…
@Tiefverleger
Ethik als eine Art Hausordnung für das Habitat System? In der naturwissenschaftlichen Systemtheorie wäre hier die Diskussion über das Verhältnis (Genom Seele) zu betrachten:
http://books.google.de/books?id=sVLSD7hjBQEC&pg=PA110&lpg=PA110&dq=stuart+kauffman+genom&source=bl&ots=wnKonY-OMj&sig=Y7yC_l8yOStMcduF4Zq5uPbsGXI&hl=de&sa=X&ei=m_epULHCC4SF4ATFlIDYCQ&ved=0CEwQ6AEwBA#v=onepage&q=stuart%20kauffman%20genom&f=false
Stuart Kauffman hat versucht, die Randbedingungen zu erforschen, unter denen ein biologisches System (Gehirn, Genom, Immunsystem) funktionieren kann. Daraus könnte man also Gebote für ein System aufstellen:
I. Du sollste keinen Netzwerkknoten töten.
II. Achte Information und reiche sie weiter.
III. Du sollst die Entropie erhöhen, doch halte Abstand vom Chaos.
IV. Gedenke der Homöostase: halte sie heilig.
V. Du sollst eine konstitutive Netzwerkverbindung nicht brechen.
VI. Du sollst nicht nach den Attraktoren Deines Netzwerknachbarn verlangen.
So in etwa könnte also eine systemtheoretische Proto-Ethik aussehen. Nackt und kühl, ohne Weihrauch, Choral und Händchenhalten.
„So in etwa könnte also eine systemtheoretische Proto-Ethik aussehen. Nackt und kühl, ohne Weihrauch, Choral und Händchenhalten.“
Hinreissend! Wenn man mores und modus derart engführt, und die Sitte und den Brauch, den Usus mit der Art und Weise (dem WIE) synonymisiert, auf welche ein System von sich selbst Gebrauch macht, oder als einen Habitus eine Haltung, mit dem es einen Aufent-halt (eine gewisse Stabilität, im Sinne der Konstanz codierter kommunikativer Anschlussfindung) hält und erhält, dann stellt sich etwa auch der von Norbert Bolz geäusserte Imperativ
„Das Entscheidende an Ethik ist: Wie kommen wir ohne sie aus?“
in einem anderen Licht da. Ethik wird nicht zu einer abgeleiteten, sekundären Temperierungsinstanz, sondern stellt sich als conditio sine quo non jeder Autopoesis heraus.
Wie kommen wir ohne das Un-vermeidliche aus?
@Tiefverleger
Nun, die transzendentale Kruste abschneiden – das ist einfach. Aber ein Unbehagen bleibt: wird das Un-vermeidliche – diese conditio sine quo non jeder Autopoesis – vereinbar sein mit Bundestag, Pressefreiheit und freier Berufswahl?
Bleibt diese Proto-Ethik abstrakt wie Kants kategorischer Impertativ oder gelingt es der systemtheoretischen Soziologie eine Brücke zur Realität zu schlagen?
@neurosophie
„Aber ein Unbehagen bleibt“
Bleibe(n) (ethos) als dämonisches Unbehagen (von dem Freud in seinem programmatischen Aufsatz „Das Unbehagen in der Kultur“ ebenfalls behauptet, dass es bliebe, dass es sich nicht beseitigen liesse.)
Vielleicht ist das die beste Übersetzung der zitierten heraklitischen Formal, in der der „Mensch“ (anthropos) zwischen ethos und daimon zum Stehen zu kommen versucht: ethos anthropoi daimon: Das Bleiben bleibt – dem Menschen – ein Unbehagen…:)
„Bleibt (!) diese Proto-Ethik abstrakt wie Kants kategorischer Impertativ oder gelingt es der systemtheoretischen Soziologie eine Brücke zur Realität zu schlagen?“
Proto-Ethik hiesse im ähnlich unbehaglichen Sinne, wie die Kategorie des Kategorischen (im Gegensatz zum Hypothetischen http://de.wikipedia.org/wiki/Hypothetischer_Imperativ) bei Kant: Unbedingtheit und Unübersetzbarkeit in ein positives (Konditional-)Programm (wenn dies vorliegt, dann tu das, etc.).
„Es gibt für die moderne Gesellschaft, für eine Gesellschaft mit voll entwickelten symbolischgeneralisierten Medien kein Supermedium, das alle Kommunikationen aufeine ihnen zugrunde liegendeEinheit beziehen könnte. Man mag hier erneut an Moral (manche sagen: Ethik) denken. Aber der Versuch, allemoralischen Schwachstellen der Gesellschaft mit Ethik (also mit einer Reflexion der Moral) zu kurieren,grenzt ans Lächerliche. Jedenfalls steht der Eignungsbeweis aus, und überdies denkt man dann typisch nichtan ein moralisch codiertes, also gutes und schlechtes Verhalten, sondern nur an das Gute, das natürlich gerngesehen ist, aber leider allein nicht vorkommt.“
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 163.
Glaubst du wirklich man könnte eine Ethik durch eine Diabolik ersetzen?
Natürlich nicht. Das Luhmann-Zitat verweist darauf, dass eine Ethik kein Supermedium sein kann, und, dass ein Supermedium gar nicht möglich ist. Diese Unmöglichkeit findet ihre Möglichkeit in einer Diabolik, deren Möglichkeit allein darin besteht, sich der verwirrendenen Komplexität und Multiplexität der Gesellschaft auszusetzen um auf Verwirrung mit Verwirrung zu reagieren.