Epistemologische Erschöpfung 2
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Der amerikanische Evolutionsbiologie Gerald Crabtree hat in dem wissenschaftlichen Fachaufsatz „Our fragile intellect“ die These aufgestellt und begründet, dass „der Mensch“ – wer oder was immer das ist – im Laufe der Evolution seine intellektuellen Fähigkeiten einbüßt. Angeblich, so die These, habe der Mensch, dieses seltsame anthropogene Phantom (Bezeichnung von mir) seinen intellektuellen Höhepunkt längst überschritten und steuere dem Verfall entgegen, der entsteht, weil durch die soziale Entwicklung der Selektionsdruck zur Auslese besserer intelligenter Eigenschaften nachlasse.
Bei Spiegel-Online wird diese Angelegenheit folgendermaßen kommentiert: „Crabtree stellt in dem Aufsatz die These auf, dass die Menschen bereits vor Jahrtausenden ihren intellektuellen Zenit erreicht hatten. Mit der Entwicklung eines sesshaften Lebensstils und verbesserten Überlebensbedingungen ging es langsam bergab. Denn seitdem konnten sich Mutationen im Erbgut ansammeln, die den Intellekt beeinträchtigen. Es ist eine steile These; der Forscher von der Stanford University stellt auch klar, dass er möglicherweise total falsch liegt.“
Und – am Schluss des Artikel heißt es ganz hübsch: „Selbst wenn die genetische Basis für den Intellekt des Einzelnen erstaunlich anfällig sei, so sei das intellektuelle Fundament der Gesellschaft stabil, schreibt deshalb auch der Wissenschaftler. Schließlich macht dies es heute möglich, solche Thesen überhaupt aufzustellen, zu veröffentlichen und sie mit passenden Experimenten zu überprüfen.“
Es handelt sich also um die nächste Variante des Lügner-Paradoxons: Wie beurteilt man die Aussage eines Menschen, der sagt, dass alle Menschen Dummköpfe sind?
Erstaunlich ist, dass dieser erkenntnistheoretische Selbstbezug gar nicht zu der Einsicht führt, dass diese Evolutionsbiologie längst am Rad dreht, sondern, im Gegenteil: sie fängt einfach an, auf der Basis ihrer Forschungsdaten, gewonnen aus Spekulationen über das menschliche Erbgut, etwas zu beurteilen, dass auf der Basis eben dieser Daten gar nicht mehr beurteilbar ist, hier: das intellektuelle Fundament der Gesellschaft. Denn wollte man behaupten, dass das Erbgut irgendwie verdorben wäre, dann kann doch daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass das intellektuelle Fundament der Gesellschaft stabil geblieben sei. Wie kann man das wissen, wenn man das Erbgut beurteilt? (Nur, weil ich feststelle, dass es hier regnet, kann ich daraus nicht den Schluss ziehen, dass woanders die Sonne scheint. Ich könnte zwar wissen, dass woanders die Sonne scheint, aber nicht deshalb, weil sie es hier nicht tut.)
Wenn man das aber wissen kann, dann nicht durch Beurteilung des Erbguts. Aber woher kommen die wissenschaftlich verlässlichen Daten, die Auskunft darüber geben, dass das intellektuelle Fundament der Gesellschaft stabil ist?
Die Antwort könnte lauten: die Biologie hat darüber keine wissenschaftlich verlässlichen Daten. Diese Behauptung ist daher reine biologische Astrologie, wie auch die gegenteilige Behauptung. Da aber diese Einsicht ausgeschlossen ist, weil sie zeigen könnte, dass diese Art der Evolutionsbiologie unwissenschaftlich ist, rettet die Biologie ihre Wissenschaftlichkeit dadurch, dass sie die Möglichkeit des Irrtums einräumt und für die Erforschung der Quelle des Irrtums möglicherweise einfach weiteren Forschungsbedarf behauptet, der sich dann gleichwohl wieder um das Erbgut kümmern muss.
Drei Dinge sind auf jeden Fall erreicht: Verlängerung der Publikationsliste, eine kritische Diskussion und ein Grund, um den nächsten Antrag für die Bereitstellung weitere Forschungsmittel zu stellen.