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Nachtrag zu: Technik frisst Ersthirn – Die Geheimnisse der Paranoia #spackeria

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Das bemerkenswerte an den Bemühungen der datenschutzkritischen Spackeria ist, dass sich dort eine Sammelstelle für Argumente findet, die erstmals seit dem Aufkommen des Datenschutzproblems die Möglichkeit anliefert, über Datenschutz ohne Angst und ohne Bedrohungsszenarien nachzudenken. Dieser Fortschritt wird aber gleich wieder dadurch zunichte gemacht, dass die Angst durch Hoffnung ersetzt wird mit dem trivialen Ergebnis, dass nunmehr ein alter Gegenstand der Kritik ein Update erfährt: Datenschutz sei eine zurückgebliebene Sache, wobei diejenigen, die ihre Kritik so formulieren, sich selbst ganz vorne wähnen dürfen.

Eine neue Avantgarde macht auf sich aufmerksam.

Die Avantgarde ist ein ganz konventionelles Konzept, das mit dem Reflexivwerden der modernen Gesellschaft entstand, ein Konzept, das sich im Zuge der Durchsetzung der Industrialisierung verbreitete und seit dieser Zeit routinemäßige Konjunkturzyklen durchmacht. Nicht zufällig dürften diese Konjunkturzyklen bestimmt sein durch gesellschaftliche Innovationen, die infolge eines Generationenwechsels neue Beobachtungsbedingungen hervorbringen. So verweisen diese Konjunkturzyklen auf periodischen Gedächtnisverlust, weshalb es kein Wunder ist, dass jede Avantgarde sich immer ganz weit vorne glaubt, weil es kein Hinten mehr gibt, besser gesagt: von vorne gesehen ist hinten ist da wo der Friedhof ist.

Wie dem auch sei. Jetzt also Datenschutz-Diskussionen mit der Spackeria ohne Angst. Immerhin.

Wie jede Avantgarde braucht auch die Spackeria das Mittel der provokativen Ostentation um ihre Kritik für oder gegen etwas zu rechtfertigen. Schon die Selbstaneignung einer Beleidigungsbezeichnung als Trotzreaktion auf Ablehnungssignale ist so eine Wichtigtuerei. „Wir sind Spackos, jawoll!“ Und sie sind stolz darauf. Aber ein Gneusenwort reicht als Obszönität nicht aus. Die Strategie der Verbreitung von Obszönitäten besteht darin, die Angstszenarien der kritischen Gegner reflexiv zu behandeln: das, wovor der Gegner Angst hat, zum Anlass für die eigene Hoffnung zu nehmen, diese mitzuteilen, um anschließend alle erwartbare Ablehnung konventionell kritisch durch eigene Ablehnung zu behandeln.
Vereinfacht formuliert handelt es sich eigentlich nur um ein Spiel mit Beobachtung, indem durch Verkehrung der Betrachtungsweise die Möglichkeiten der Kritik noch einmal und zum wiederholten Male durchgespielt wird. Das heißt: die Provokation ist gegen gar nichts gerichtet, sondern ist ein Mittel der Rechtfertigung und damit zugleich ein Mittel der Affirmation und der Prolongierung dessen, wogegen man sich richtet. Datenschutzmaßnahmen werden gar nicht abgeschafft, sondern nur unter der Bedingung weiter verhandelt, dass man ihre Vernachlässigung nun auch befürworten kann.

Ergebnis: die Spackeria sorgt nur dafür, dass die Diskussion um den Datenschutz nicht langweilig wird, ohne gleichwohl für die zu lösenden Probleme Lösungen zu finden, weil jeder Lösungsvorschlag immer auf Kritik stößt und damit bleibt alles beim Alten, weil die Grenzen des Möglichen durch Kritik hergestellt und sicher gestellt, nicht durch Kritik überwunden werden. Vorerst. Denn auch die von Angst getriebene Kritik an der Vernachlässigung von Datenschutz hat nie dazu geführt den Datenschutz zu verbessern, sondern hat immer nur erbracht, die Kritik zu differenzieren, zu verfeinern und komplexer zu gestalten. So könnte also auch die umgekehrte Betrachtungsweise evident werden, dass durch Kritik aufgrund von Hoffnung das Scheitern Datenschutzes scheitern könnte.

Die Provokation lautet daher: das Privatleben, die Privatsphäre, die kleinen und großen Geheimnisse, die intimen, aber legalen, die illegalen, aber akzeptierbaren Geheimnisse des Subjekts sind nicht mehr zu garantieren. Irgendwo ist da wer, der dich beobachtet, der etwas über dich weiß, der etwas über dich heraus finden kann, das du selbst gern verheimlichen wolltest. Und das beste wäre, du siehst es ein und kommst der Angst zuvor, indem du die Angst-Paranoia in eine Paranoia der Hoffnung umkehrst. Sich nicht mehr von Angst getrieben, sondern sich von Hoffnung gezogen zu fühlen sei der Ausweg.

Die Widersprüche der transzendentalen Subjektivität, die sich durch die Vermeidungsstrukturen der modernen Gesellschaft überreichlich akkumuliert haben, finden an dieser Stelle ihren Brennpunkt: die Paranoia.

Die Paranoia ist in dieser Hinsicht Reflexionsergebnis der Kritik, sie ist das durch die Form der Kritik als ausgeschlossene Dritte, das durch Auschluss eingeschlossen wird, das deshalb dämonisch in der Kritik selbst haust und dort ihr zu vermeidendes Unwesen treibt. Und tatsächlich kann man nun feststellen, dass diese Vermeidungsversuche noch einmal durchexerziert werden um die Paranoia zu bändigen.

Der nächste konsequente Schritt wäre, wollte man nicht nur auf Angst, sondern auch auf Hoffnung verzichten, jeden Bändigungsversuch der Paranoia ebenfalls fallen zu lassen. Ratsam ist das aber nicht, weil niemand weiß, was dann noch zu tun, was dann noch zu erwarten wäre. Also wird einfach mit dem weiter gemacht was jeder schon kennt. Alles andere führt nur in dunkle Reich des Unbekannten, und bekanntermaßen kann darüber niemand kompetent Auskunft geben.

 

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Unverschämte Unschuld 3 – Der Kampf geht weiter #cybermobbing

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Die  Täter-Opfer-Semantik hat sich für die Herausbildung einer dichotomischen Methode so eng eingespielt, dass keinerlei Platz ist für Grautöne, für Abstufungen, für ein Mehr oder Minder des Gemeinten: es gibt keine dreiviertel-Opfer, keine zweifünftel-Täter, was auch schwer zu berurteilen wäre. Denn was wäre die ganze Tat, von welcher einer Seite eine fünftachtel und der anderen die ergänzende dreiachtel-Beteiligung zugesprochen werden könnte? Es gibt kein überzeugendes Verfahren, mit dem man eine Anteilszurechnung begründen könnte.

Stattdessen gibt es nur ein Entweder-Oder.  Entweder du bist Täter oder du bist Opfer. Und die sozial verbreitete Akzeptanz der Unschuldsvermutung reduziert die Täter-Opfer-Dichotomie auf den Unterschied zwischen schuldig oder unschuldig. Und die Überhändigung der Nachweisbarkeit unterliegt der Annahme, dass Nachweisbares überhaupt nachweisbar ist, woraus sich konsequenterweise ergibt, dass das, was nicht nachweisbar ist, was sich durch Referenzierung nicht herbeibringen lässt, auch gar nicht real, bzw. nicht wirklich real ist. Dazu gehört vor allem Wahrnehmung, Denken und Erleben, weil alles, was wahrgenommen, gedacht und erlebt wird im selben Augenblick schon wieder entschwindet: was nicht bleibt sei nicht real; wohingegen alles, was real ist, was sich also durch Referenzierung als Bleibendes, als Feststellbares herausstellt, darauf hin beurteilt werden kann, ob es sich um reale  oder um fiktive Realität handelt. So kommt dann durch die Zauberkunst eine Beobachters die Einsicht zustande, dass zwar Wahrnehmen, Denken und Erleben sehr sehr wohl real sind, weil Dokumente auch all dies kommunizierbar machen und es all deshalb wirklich gibt; aber all das ist nicht wirklich real, sei nur im Bereich des Möglichen, des Unbestimmten real, weil durch Referenzierung, also durch Nachweis, nur festgestellt werden kann, dass man darüber nichts Bleibendes und nichts Bestimmtes heraus finden kann. So kommt es also, dass für alles Wahrnehmen, Denken und Erleben die Unschuldsvermutung gilt und übrigens – was folgerichtig gilt – für alles Handeln, es sei denn, man kann das Gegenteil nachweisen.

Wenn man auch gegen diese Zauberkunst eines solches Beobachters keine Einwände anführen möchte, so verbleibt es doch einzig und allein dem Vermögen einer geheimen Zauberkunst des selben Beobachters vorbehalten, zu erklären, wie durch durch Wahrnehmen, Denken, Erleben und Handeln Schuld entstehen könnte. Wie könnte Schuld entstehen, wenn allein Unschuld immer voraus gesetzt sei? Die Antwort könnte lauten: Unschuld ist eben nicht allein voraus gesetzt, allein, Unschuld ist nicht nachweisbar. So sei folglich auch die Handlung der Nachweiserbringung, des Vorbringens von Beschuldigungen, Verdächtigungen und die Beibringungen von Dokumenten zum Nachweis von Schuld von Unschuld bestimmt. Wer behauptet, beleidigt worden zu sein, darf immer die eigene Unschuld behalten, weil dies auf Empfindung beruht, die ja nicht wirklich real wäre. Die triviale Kontingenzformel dafür lautet: Empfindungen sind subjektiv, und allein darum schon irgendwie legitim.
Unschuld müsse nicht verantwortet werden, weshalb es kein Wunder ist, dass diese Unverantwortlichkeit der Unschuld zu einem begehrten Gut werden kann, von dem niemand jemals genug erhalten hat.
Die überall feststellbare Verantwortungslosigkeit ist das Ergebnis von Unschuldsbegehrlichkeiten.

Soziologen, Psychologen und Juristen haben in den letzten ca. 150 Jahren ganze Wälder abholzen müssen, um Rechtfertigungen für ihre Alchemie zu liefern. Was wäre aus diesen Begründungen geworden, hätte man nicht frühzeitig eine nachhaltige Forstwirtschaftwirtschaft betrieben?
Inwischen wird kein Holz mehr gebraucht, sondern Silicium, um den Kampf um die Rettung der Unschuld fortzusetzen.

Die Rettung der Unschuld verlegt sich inzwischen auf den Kampf gegen das sog. Cybermobbing: Das Internet als Feind – Bündnis kämpft gegen Cybermobbing. Dieser Artikel dokumentiert in kompakter Form das ganze Programm transzendentaler Subjektivität: ein Bündnis, eine konspirative Absprache zwischen Menschenbrüdern, die sich gegenseitig ihrer Unschuld vergewissern, wird in einer juristischen Person (hier: als Verein) verobjektiviert, die sich von einem abstraktengedacht Feind umstellt sieht, dem Internet, von welchem wiederum angenommen wird, es sei das Ergebnis von kommunikationsverursachenden Instanzen wie z.B. handelnden Menschen, die für ihre Taten selbstverständlich verantwortlich wären. Da aber alle die Unverantwortlichkeit ihrer Unschuld genießen und so niemand einfach verhaftet werden kann, muss gekämpft werden. Es werden Unrechtstatbestände und Missstände benannt, es wird eine Klientel gesucht, Partei ergriffen, Dringlichkeit und Relevanz durch Experten plausibel gemacht, welche sebstverständlich ebenfalls komplett unschuldig sind.
Wichtig dabei ist, dass sie so konstruierte Kampfsemantik in jeder Hinsicht geeignet ist, die eigene Unschuldsvermutung gar nicht zu beeinträchtigen. Es wird gekämpft und die Kämpfenden können jederzeit unschuldig bleiben. Der Grund dafür liegt im Gewaltverzicht und in der Bereitschaft, allein den Weg des Rechts und der Aufklärung zu beschreiten.
Liest man den oben verlinkten Artikel genau, so kann man festellen, welche Schwierigkeiten der Rechtsfindung und der Aufklärung in den Weg gestellt sind. Die rechtlichen Schwierigkeiten beziehen sich auf die Feststellbarkeit von Tatbeständen (was ist Beleidung, Demütigung, Gewalt …), wann geschah all dies und wo, und schließlich von wem? Und wie und womit? Und da leicht erkennbar, dass die Dinge nicht allein juristisch zu bewältigen sind, müssen sich die Beteiligen zum x-ten Male den Mühen der kritischen Bewusstseinsbildung unterziehen: Erziehen, belehren, beraten, aufklären – also: verhindern.

Noch niemals ist auf diese Weise irgendein Missstand beseitigt oder verhindert worden. Aber darauf kommt es gar nicht an.

 

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