Die radikale Versachlichung einer anonymen Ordnung
Das Internet ermöglicht Kommunikation zwischen Abwesenden, die für einander auch unbekannt bleiben können. Die Kommunikation ist damit nicht mehr auf die Wahrnehmung eines wahrnehmenden Gegenübers angewiesen, denn im Prinzip kann es sich bei den Beteiligten auch um antwortfähige Computer handeln; und es kommt hinzu, dass durch Anonymität eine Morallosigkeit garantiert wird.
Vergleichbar wäre diese Art der Kommunikation mit dem Geldverkehr. Denn Geld, soll es für alle geeignet sein, muss ohne moralische Bindungen funktionieren, was dann auch zur Folge hat, dass Geld für alles geeignet ist. Niemand weiß, wer einen Geldschein zuvor in Händen gehalten hatte und welche Art von Geschäft damit getätigt wurde. Ob Drogengeschäfte, Kinderpornographie, Telefonseelsorge oder Schulunterricht – alles wird mit dem selben Geld bezahlt. Ob ökologisch produzierte Waren oder nicht, die Anonymität, das Nichtwissen um Herkunft und Weiterverwendung des Geldes, garantiert Morallosigkeit des Geschehens, das sich völlig unbeeindruckbar gegenüber Belehrungen und Appellen zeigt, etwa solche, die meinen, man solle bitte das Geld für fair gehandelte Waren ausgeben. Denn tut man dies, so ist garantiert, dass man nicht weiß, für welches Geschäft ein bestimmter Geldschein weiter verwendet wird. So könnte der Empfänger eines Geldscheins damit seine Zinsen bei einer Bank bezahlen, die dieses Geld dann an ein Unternehmen verleiht, das – um Kosten zu reduzieren und Gewinne zu maximieren – Raubbau an Menschen betreibt. So kann niemand mit einer eigenen und bestimmten Absicht das Marktgeschehen manipulieren oder steuern.
Alle Beteiligten unterliegen durch Geldgebrauch einer anonymen Ordnung, von welcher nur bekannt ist, dass sie eine radikale Versachlichung der Marktbeziehungen erzwingt.
Eine solche radikale Versachlichung zeigt sich nunmehr auch für den allgemeinen Fall aller Kommunikation, wenn sie – wie durch das Internet bemerkbar – anfängt, eine anonyme Ordnung in die Beziehungen einzuschleusen. In dem Maße wie alle Menschen jetzt als Publizisten tätig werden können, ist keine Selbstbeschreibung mehr frei von dem Verdacht der Mutwilligkeit der Proklamation ihrer Bedeutung. Das heißt: weil nun allen die Möglichkeit zur Verfügung steht, sich manipulativ in der Kommunikation bemerkbar zu machen, entziehen sich alle Bedeutungen der ausschließlichen Interpretationsmacht von einigen oder wenigen. Die Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Manipulationsverfahren erzwingt die Unmöglichkeit der Verfügung über Manipulationen. Manipulationen sind damit gar nicht ausgeschlossen. Vielmehr sind sie nicht mehr als Problem der Täuschung anschließbar, weil sich jetzt für alle zeigt, dass keiner nicht täuschen kann.
Es zeigt sich nun die Trivialisierung einer akademischen Theorie, die besagt, dass Kommunikation zwar den Unterschied zwischen Täuschung und Echtheit bereitstellen kann, sie selbst aber kann weder das eine noch das andere garantieren. In dem Maße, wie diese Einsicht trivial wird, stellt sich der Effekt der radikalen Versachlichung ein. (Ein Nebeneffekt ist, dass eine solche akademische Theorie in dem Augenblick ihrer trivialen Evidenz überflüssig wird.)
Über die hauptsächlichen Effekte dieser radikalen Versachlichung ist damit aber noch nichts gesagt. Wenigstens zeigt sich schon, dass die Morallosigkeit ihren obszönen Charakter verliert.