Experteneinstellung: benutzerdefiniert #twitteraffäre
von Kusanowsky
Anknüpfend an einem jüngst zurückliegenden Artikel über den Zusammenhang von Massenmedien und Expertentum passt eine gerade durchlaufende Irritation über eine twitternden Regierungssprecher. Bei CARTA gibt es eine höchst aufschlussreiche Dokumentation über eine Pressekonferenz, in der Agenturjournalisten höchst aufgeregt und spitz danach fragen, was es damit auf sich hat; was Agenturjournalisten also davon halten sollten, wenn die Regierung künftig Twitter als Kanal zur Verbreitung von Informationen verwendet.
Ausgehend von dieser kleinen Affäre, die für die weitere Entwicklung wohl nur als Fußnote Bedeutung haben wird, was schade ist, denn gerade an solchen Bagatellaffären kann man sehr deutlich erkennen, wie eine Entwicklung umschlägt, könnte vielleicht noch einmal überlegt werden, wie man diesen Entwicklungsprozess charakterisieren könnte. Ich würde das Argument vorschlagen, dass mit der verbreiteten Benutzung des Internets die Massenmedien erstens sich selbst massenweise verbreiten, also gleichsam durch das Internet zu sich selbst kommen, was schließlich in der vollständigen Trivialisierung des Internets mündet; was aber zweitens von einer Enttrivialisierung dieser Systemumwelt durch massenhafte Verbreitung von Experten begleitet ist. Der Experte, von dem hier die Rede ist, ist dann der Internetuser selbst, der die trivialisierten Möglichkeiten des Internets „benutzerdefiniert“ verwendet, ohne sich dabei länger an Vorgaben zu halten, die durch eine one-to-many-Selektionsroutine entstehen.
Der Journalismus wie übrigens alle anderen Systeme auch, die dem Dispositiv der Massenmedien zugeordnet waren, zeichnete sich dadurch aus, dass eine zentrale Referenzstelle wie ein Verlag, eine Sendestation oder ein Autor mehr Aufmerksamkeit auf sich zog als diejenigen, die diese Aufmerksamkeit bereitstellten, was eine Hierarchiesierung der Informationselektion zur Folge hatte. Dieses Muster der zentralisierten Informationsselektion zeigte sich auf allen Organisationsebenen: Verlag – Redaktion, Chefredaktion – Ressorts, Redakteur – freier Journalist, Lektor – Autor, Autor – Leser. Dieses Muster findet man übrigens überall dort, wo die Anschlussfindung hauptsächlich über die Verbreitung von Dokumenten funktioniert, so etwa auch an Universitäten (Professor – Studierende), Parlamenten (Abgeordnete – Wähler) oder im Vereinswesen (Vorstand – Mitglieder). Bilden sich solche Muster heraus und geraten durch Organisation in Konkurrenz zu einander, stellt sich die Situation ein, dass ein Vorrecht zur Informationsselektion notwendig beibehalten werden muss, um daraus resultierende Strukturen der Kapitalakkumulation durchzuhalten: nur, wer zuerst informiert ist, kann Entscheidungen treffen und Entscheidungen stellen sicher, wer zuerst informiert wird. So hat verloren, wer zuletzt oder wenigstens schon nicht zuerst informiert ist. Daher kommt der Dauerverdacht der Manipulation durch Massenmedien, da stets alle beteiligten Kommunikationssysteme, da sie auf gegenseitiges Informiertwerden notwendig angewiesen sind, plausible Gründe dafür finden, dass sie entweder nicht, nicht vollständig, also einseitig, parteilich, subjektiv oder nicht rechtzeitig informiert wurden: Politiker verdächtigen Journalisten, diese verdächtigen Politiker, Leser und Zuschauer verdächtigen mal die einen, mal die anderen, während die einen und die anderen wahlweise ihre Wähler oder Leser und Zuschauer verdächtigen, von anderern falsch und unzureichend informiert worden zu sein. Zur Lösung daraus resultierender Verwirrungssituationen entstand ein Expertentum, das sowohl Glauben als auch Zweifel über die Berichterstattung ermöglichte, womit jedoch nur eine Dauerirritation sicher gestellt wurde. Denn das gegenseitige Verdächtigungsspiel mit damit ja nicht ausgehebelt, sondern nur professionalisiert.
Die interessante Frage ist nun, was passieren könnte, wenn sich dieses Muster erfolgreich durchsetzt und sich durch seinen Erfolg trivialisert; wenn also das, was man früher einen Emanzipationsprozess nannte, beobachtbar wird. In dem Maße, in dem Massenmedien die Kontingenz ihrer Informationsverbreitung nicht mehr weiter einschränken können, sie sich also bis an die Grenze der Beliebigkeit entfalten, wird andersherum ihr Erfolg sichtbar: immer mehr Menschen sind immer besser informiert. Da aber durch das Internet eine Zentralreferenz der Informationsselektion wegfällt, bleibt eigentlich nur ein fast anarchisches Verdächtigungsgeschehen übrig, das zeigt, dass jeder jedem zu misstrauen hat mit allen daraus resulierenden Phänomen was etwa Trollerei, Beschimpfungen, Desinformation, Virenverbreitung, Spionageattacken und dergleichen. Das Internet wird als eine Informationsanarchie beobachtbar, solange das massenmediale Dispositiv als Beobachtungsschema Verwendung findet.
So erklären sich dann auch die höchst empfindlichen Fragen der Journalisten auf eingangs erwähnter Pressekonferenz. Man kann sehr genau bemerken, wie eifersüchtig die Fragen der Journalisten, aber auch die Antworten sind. Man achte dabei vor allem darauf, wie sehr sich das Frage- und Antwortspiel auf die Berücksichtigung von Interessen der jeweils anderen Seite konzentriert, gleich so, als ob Journalisten schon immer die Bedürfnisse der Politker und diese die Bedürfnisse der Journalsiten prioritär behandelt hätten. In dem Aufgenblick aber, in dem Twitter als Kanal zu Informationsverbreitung in bekannten Selektionsroutinen und Hierarchiemuster eingeschleust wird, stellt man fest, wie sehr die Systeme bei aller Rücksichtslosigkeit, die sie sonst im konkurrenten Geschehen zeigen, auf einander angewiesen sind.
Twitter wirkt hier disruptiv. Es unterläuft die Routinen und Muster und macht sie dadurch erst kenntlich.
Die Erkenntnis lautet, dass die Funktionsweise der Massenmedien erst in derjenigen historischen Situation verstanden werden kann, in welcher sie sich verabschieden. Was aber auch heißt, dass die Strukturen, die das ermöglichen, selbst nur latent wirksam sind.
In der Chain fehlt noch der ‚Augenzeuge‘ – also die nicht-intentionale Quellreferenz, welche von einem ‚Reporter‘ (man achte auf das Wort) interviewt wird. Im Web gibt es das auch … nicht-intentionale Berichterstatter … und (das mag eine neue Qualität sein – kann das nicht abschätzen) nicht-intentionale Reporter, die für die Weiterverbreitung sorgen. Fällt nun der Urheber zusammen mit dem Augenzeugen und dem Reporter (Bundestagsabgeordnete twittert) und wird die soz. Community Verbreiter, dann wird man eigentlich nur in das Zeitalter des laut vermarkteten Extrablatts oder des Ausrufers zurück versetzt. Vielleicht ist damit eine Komponente des medialen Geschäfts berührt … alle anderen bleiben. Höchstens wird die Authentizität und Originalität ein neues Phänomen, wenn der Urheber selbst verbreitet und man aus erster Hand informiert wird. Vielleicht wird das der Schlüssel, um Fakes (gestellte Sensationen) zu entlarven … aber naja, es gibt sie halt auch in diesem Spiel: die virtuellen Entitäten. Wir wissen ja nicht wirklich (und das ist eigentlich auch ganz gut so), ob der andere wirklich der ist, der er zu sein scheint.
Für mich wird durch Twitter und andere neue Formen der Informationsverbreitung eher ein ‚back to the roots‘ sichtbar … nicht umsonst wird das Bild des ‚Dorfes‘ verwendet und Dorfklatsch ist halt auch ne wichtige Sache.
@itari „für mich wird durch Twitter und andere neue Formen der Informationsverbreitung eher ein ‘back to the roots’ sichtbar“ Das hatten wir hier schon mal diskutiert, wenn auch nicht sehr ausführlich, z.B. hier https://differentia.wordpress.com/2010/11/25/archivierung-von-digitaler-literatur/#comment-896
Tatsächlich vermute ich auch, dass mit dem Internet Problemsituationen möglich werden, die von Ferne an illiterate Gesellschaften erinnern, insofern mit dem Internet eine Erfahrungsform entsteht, die zwar Dokumente verwendet, aber die dadurch möglich werdenden Aussichten nicht mehr versteht. Die Dokumentform stellt vor allen Dingen permanente Zeugenschaft bei Abwesenheit in Aussicht mit allen sich daran knüpfenden Möglichkeiten der Beweisbarkeit, Beherrschbarkeit und Durchschaubarkeit. Aber das Internet liefert den Schlussstein für die Dokumentform, insofern es alle Dokumentalität in Dauerfluktuation versetzt und entsprechend die Simulierbarkeit als Prüfstein einer Realitätsermittlung und Realitätvergewisserung nimmt.
Passt! Es stimmt schon, dass das Dokument (Post, Beitrag, Geschriebenes) nur noch eine kurze Verweilzeit (auch im Kopf des Beobachters) hat – gelegentlich merken wir, dass man sich beim Auftreten von Kopien, Wiederholungen usw. fragt, warum das schon wieder? Kennen wir doch – und dabei wird vergessen, dass erst durch die Multiplikation der Botschaft Verbreitung entsteht. Auf der anderen Seite ist Neuste immer des Neuen Tod und die Gier nach Neustem ist unersättlich … und manche Internetformen (vor allem Facebook) machen sich ja noch nicht einmal die Mühe, eine Begegnung mit Bekannten zu fördern (keine Suchfunktion – im Gegensatz zu Twitter). Andererseits gibt es bei Facebook die Möglichkeit, sich alle selbst verfassten Beiträge als pdf-Datei zusammen stellen zu lassen … man erschrickt förmlich über das dabei entstandene Kompendium.
Noch eine Geschichte: Leserbriefe/Kommentare/Empfehlungen. Die Anzahl der Kommentare, die Anzahl der ‚Gefällt-mir-Klicks‘ sind auf einmal bedeutsam (und unmittelbar wie Beifall); völlig anders als beim Druckwerk oder der Einbahnstaßeninformation des TVs. Das ist schon eine andere/neue Qualität, die schnell zur Meinungsbildung und auch schnell durch Vorenthalten von Informationen oder bewusster Desinformation zur Halbwahrheit führt. Bestes Beispiel sind die immer wieder anzutreffenden Verschwörungstheorien, die durch geschickte Inszenierung (sehr professionelle Videoclips) hohe Glaubwürdigkeit erhalten, weil man den Hauch von Seriosität verspürt.
„Sagt mal von wo kommt ihr denn her? Aus Schlumpfhausen bitte sehr…“
http://www.netzpolitik.org/2011/innenminister-kann-nicht-fur-die-sicherheit-von-twitter-garantieren/
[…] wird. In dieser Trivialität aber scheinen mir die Ausgangsbedingungen für die Formierung eines Enttrivialisierungspozesses zu liegen, der insbesondere für die Figur des Autors und Schriftstellers einen Ersatz erarbeitet, […]
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[…] eingeübte Routinen der Exponierung von Experten unterläuft; ein Phänomen, das sich durch die Akzeptanz von Twitter bis in den Jorunalismus ausdehnt. Denn was spricht gegen die Überlegung, dass Twitter nichts […]