Modernisierung und Katastrophe
Modernisierung wird zwar verhaltener als noch vor ein paar Dekaden, aber doch immer noch in einem zurückhaltenden, man kann auch sagen: aufs äußerste abgeflachten Sinne als ‚Fortschritt’ mehr oder weniger stillschweigend, und vor allem als die letztlich einzig mögliche Art, dem Terminus überhaupt noch einen Sinn zuzugestehen, der veröffentlichten Meinung zugrunde gelegt. Wie auch immer man den Sinn von Modernisierung deutet, ihm haftet das Unvermeidliche als eine seiner Konnotationen an, und von dort wäre es nicht weit bis zu der Einsicht in den Nebensinn des Verhängnisses oder, insofern es hier um eine unablässige Umwälzung des sozialen Lebens geht, das jedoch nur als unvermeidbare Nebenfolge im Sinne einer ‚sozialen Veränderung’ bzw. einer ‚sozialen Evolution’ auftritt, die vom sozialen Leben selbst nicht so sehr ausgeht, als von den ihm mehr oder weniger offenkundig ‚übergeordneten’ Bestimmungsgrößen des Lebens in Industriegesellschaften, zum Sinn von ‚Katastrophe’, insofern eben dies der genaue Sinn dieses Wortes ist. Tatsächlich wird das Wort heute gewöhnlich für diejenigen ‚Grenzfälle’ eines plötzlichen und unvorhergesehenen, jedenfalls aber unerwünschten und zerstörerischen Falles vorgesehen, wie er durch Naturereignisse wie Vulkanausbrüche und Überschwemmungen, Meteoriteneinschläge oder Kriegsereignisse wie die Folgen eines Bombenkrieges etc. oder eines Brandes herbei geführt werden kann. Aus dieser Grenzlage des Bewusstseins ist die ‚Modernisierung’ heraus gerückt worden. Umgeben von einem enormen rhetorischen Halo von abgeblassten Kategorien des Optimismus der Aufklärung und des ‚wissenschaftlichen Fortschritts’, des Humanismus und der Verbesserung, die alle mit dem Inbegriff des Neuen eingekleidet werden, der wiederum mit dem Guten, Wahren und Schönen in jeder Hinsicht tatsächlich auch im ästhetischen Sinne eines technischen Funktionalismus unterfüttert ist, bleibt angesichts dessen nur die unablässige, beschämende und auch ungemein herabsetzende Kehrseite dieser Propaganda des ‚Positiven Denkens’, als ‚dark side of the moon’, wie das Pink Floyd, auf deren Konto die Rettung von mehr Menschenleben der Industriegesellschaft gehen als auf das Konto aller Sozial- und therapeutischen Berufe und ihrer Apparate zusammen, die in der mit den Veränderungsgeschwindigkeiten der modernen Welt und deren wachsender Beschleunigung die Menschen gegenüber dem sie unablässig, sowohl in Hinsicht auf den ihnen ermöglichten Konsum und dessen Imagines wie auch in Hinsicht auf ihre Existenz als Arbeitskräfte der Industrien, denen sie dienen dürfen, wenn diese es ihnen erlaubt, mit eben dieser Veränderungsgeschwindigkeit beschleunigt veralten lässt.
Auszug aus: Lebenswelt und Gedächtnis. (Leseempfehlung, nur für Geduldige!)