Differentia

Monat: März, 2011

Vergiftungssymptome bei Wikipedia

Das Kuratorium (der Wikipedia Foundation) ist der Meinung, dass die abnehmende Autoren-Aktivität gegenwärtig für die Wikipedia die wichtigste Herausforderung darstellt. Wir möchten alle Beteiligten … dazu ermutigen, über Wege nachzudenken, wie wir dieser Herausforderung entgegentreten können. Wir wissen, dass dies schon in den vergangenen Jahren für viele Freiwillige ein wichtiges Thema war, und dass sie konstant an der Freundlichkeit im Umgang und für die Erweiterung unserer Community gearbeitet haben. Wir denken darüber nach, was das Kuratorium beitragen kann, um diese Arbeit effektiver zu machen. Dazu bitten wir die Community um Hilfe, und laden alle ein, darüber zu diskutieren und Vorschläge zu unterbreiten.

Mit diesen Worten wendet sich der „Wikipedia:Kurier“ an die Gemeinschaft um dem beobachtbaren Schwund von Autoren entgegenzuwirken.
Der Selbstauskunft nach liegt der Grund für die zunehmende Entmutigung in einer sich anhaltend zeigenden Unfreundlichkeit mancher Administratoren, die mit allzu rigiden Maßnahmen notwendige Diskussionen abbügeln und Löschungen vornehmen. Wenn dies stimmen sollte, so wäre die oben aufgeführte Aufforderung, Vorschläge zur Vermeidung solchen Verhaltens zu unterbreiten, vergleichbar mit dem Versuch, den Bock zum Gärtner zu machen, denn wie man weiß zeigen sich Ziegenböcke nicht gerade zimperlich darin, die schönsten Pflanzen zu fressen.
Aber dieser Einwand ist streng genommen gar nicht berechtigt, kann man doch erstens nicht genau sagen, was eine Unfreundlichkeit ist – interessant wäre, einen neutralen Artikel zu diesem relevanten Stichwort zu verfassen (oder aber dieses Stichwort wäre nicht relevant, dann auch nicht der Sachverhalt der Unfreundlichkeit, jedenfalls gibt es noch keinen Artikel zu diesem Stichwort) – zweitens kann man nicht genau angeben, von wem diese Unfreundlichkeiten ausgehen, denn wer dies angeben wollte müsste dies auf freundliche Weise tun, was wie gesagt nicht einfach geht, und drittens – und das sei der hier focussierte Punkt – kann man ein Problem nicht lösen, solange man es noch nicht in Erfahrung geracht hat. Wenn auch angeblich klar scheint, was das Problem ist, nämlich die unerträgliche Giftigkeit einiger, so ist einfach nicht erklärbar, warum – wenn dies so ist – das Problem so schwierig zu lösen wäre. Denn man kann recht schnell bemerken wie es wohl ausgehen mag, wenn man die Entmutigten ermutigen muss, Vorschläge zur Lösung eines Problems zu liefern, das dadurch entsteht, dass sie entmutig sind. Wenn es aber schwierig ist, dann wohl deshalb, weil man es nicht so einfach bezeichnen und berurteilen kann. Das meint: das Problem ist noch nicht ausreichend in Erfahrung gebracht.

Die Wikipediaschaft zeigt sich außerstande eine Lösung auf der Basis ihrer eigenen Unterscheidungen zu finden, was kein Wunder ist, wenn man etwa darauf bestehen wollte, dass sich die Bedingungen für eine Lösung auf Konsens, Widerspruchsfreiheit und allgemeine menschliche Verständigkeit beziehen sollten. Die Wikipediaschaft vermag zwar Relevanzkritierien für alle möglichen Stichworte zu liefern, die Relevanz der eigenen Erwartungen kann sie nach Maßgabe ihrer eigenen Kriterien nicht erfassen; und die Frage lautet: warum nicht?
Eine Antwort unter einer komplexen Auswahl von Möglichkeiten lautet, dass bei Wikipedia Selbstreferenz nicht behandelt werden kann. Sie kann thematisiert werden, wie alles andere auch, so kann sich Wikipedia stichwortmäßig selbst thematisieren, aber die Unterscheidung von beobachtbarer und operationalisierbarer Selbstreferenz wird an die Umwelt ausgelagert, aus welcher sie die Differenzen bezieht, um sowohl Selbstreferenz als auch sich selbst thematisieren zu können. Mag die Wikipediaschaft auch alles Wissen dieser Welt versammeln, so kann sie mit all diesem Wissen in Bezug auf sich selbst einfach nichts anfangen; streng genommen heißt das, dass Wikipedia gar nichts weiß. So wundert die Ratlosigkeit, die aus dem Eingangszitat spricht, nicht.

Dieser Befund ist für diejenigen, die sich mit einer Theorie sozialer Systeme befassen, gar nicht überraschend. Soziale Systeme wissen nichts, das gilt auch für wissenproduzierende Systeme, seien sie wissenschaftlich oder nicht. Wissenstheoretisch bedeutet das nicht, dass es kein Wissen gäbe, sondern nur, dass es nichts gibt, das etwas wüsste. Wissen ist nichts Vorhandenes, Gegebenes, Besessenes, sondern aktualisiert sich im Prozess der Wissensbildung und kann mit ihm genauso wieder verschwinden.
Die moderne Gesellschaft hatte nun aber eine Erfahrungsform gefunden, mit der sich sich über diese Einsicht hinweg retten kann. Diese Form ist die Dokumentform, die es möglich macht, Illusionen über Beständigkeit, Veränderbarkeit, Ausstauschbarkeit und Abrufbarkeit von Wissen in Empirie zu überführen. Und wenn dies gelingt, so kann der selbstreferenzielle Wissensproduktionsprozess nicht noch einmal reproduziert werden, jedenfalls kann er nicht noch einmal nach Maßgabe dieser Form der Organisation und Überführung von Empirie in Empirie nachvollzogen werden. Dieser Erkenntnis findet Niederschlag in der Aussage, dass selbstreferenzielle System ihre Selbstreferenz nicht beobachten können, eine Aussage, die im Gegensatz zu ihrer Beobachtbarkeit steht. Der Grund, warum solche Aussagen als „Luhmann-Sprech“ und Soziologen-Gefasel abgetan werden, liegt an den Aussichten, die durch die Dokumentform erhärtet werden, nämlich: Konsens, Widerspruchsfreiheit, Logik, Rationaliät und Ansprüche an menschliche Verständigkeit zu garantieren, wobei das ständige Scheitern an diesen Ansprüchen den Attraktor bildet, um diese variantenreich zu respezifizieren.
Aber damit nicht genug. Das Wikipedia-Verfahren ist eigentlich unglaublich gut dazu geeignet, diese Problemsituation zu bemerken und zu verstehen, wie das Probelm entsteht, aber dazu müsste man damit aufhören, Wikipedia-Artikel als Dokumente zu behandeln, also als selbstgleiche Einheiten, die niemals etwas über sich selbst, sondern stets nur über etwas über Anderes aussagen. Aber soweit ist die Problemerfahrung noch nicht gediehen. Stattdessen wird unter Verwendung der Hyperlink-Technologie eine Problemsituation restabilisert, die mit dem Hyperlinkverfahren eigentlich überwunden werden könnte, indem man diese Dokumente als benutzerdefinierte Performate behandelt, also als Simulationen von Wissen, die Manipulationen nicht als Problem verstehen, sondern auch als Lösung nutzen könnten.
Solange aber diese Einsichten auf sich warten lassen, kann man der Ratlosigkeit nur zuschauen. Übrigens geht das schon mit amüsiertem Gleichmut, weil man bemerkt, wie wenig relevant eigentlich solchermaßen selbstreferenziell beobachtbare Problemsituationen sind.
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Experteneinstellung: benutzerdefiniert #twitteraffäre

Anknüpfend an einem jüngst zurückliegenden Artikel über den Zusammenhang von Massenmedien und Expertentum passt eine gerade durchlaufende Irritation über eine twitternden Regierungssprecher. Bei CARTA gibt es eine höchst aufschlussreiche Dokumentation über eine Pressekonferenz, in der Agenturjournalisten höchst aufgeregt und spitz danach fragen, was es damit auf sich hat; was Agenturjournalisten also davon halten sollten, wenn die Regierung künftig Twitter als Kanal zur Verbreitung von Informationen verwendet.
Ausgehend von dieser kleinen Affäre, die für die weitere Entwicklung wohl nur als Fußnote Bedeutung haben wird, was schade ist, denn gerade an solchen Bagatellaffären kann man sehr deutlich erkennen, wie eine Entwicklung umschlägt, könnte vielleicht noch einmal überlegt werden, wie man diesen Entwicklungsprozess charakterisieren könnte. Ich würde das Argument vorschlagen, dass mit der verbreiteten Benutzung des Internets die Massenmedien erstens sich selbst massenweise verbreiten, also gleichsam durch das Internet zu sich selbst kommen, was schließlich in der vollständigen Trivialisierung des Internets mündet; was aber zweitens von einer Enttrivialisierung dieser Systemumwelt durch massenhafte Verbreitung von Experten begleitet ist. Der Experte, von dem hier die Rede ist, ist dann der Internetuser selbst, der die trivialisierten Möglichkeiten des Internets „benutzerdefiniert“ verwendet, ohne sich dabei länger an Vorgaben zu halten, die durch eine one-to-many-Selektionsroutine entstehen.
Der Journalismus wie übrigens alle anderen Systeme auch, die dem Dispositiv der Massenmedien zugeordnet waren, zeichnete sich dadurch aus, dass eine zentrale Referenzstelle wie ein Verlag, eine Sendestation oder ein Autor mehr Aufmerksamkeit auf sich zog als diejenigen, die diese Aufmerksamkeit bereitstellten, was eine Hierarchiesierung der Informationselektion zur Folge hatte. Dieses Muster der zentralisierten Informationsselektion zeigte sich auf allen Organisationsebenen: Verlag – Redaktion, Chefredaktion – Ressorts, Redakteur – freier Journalist, Lektor – Autor, Autor – Leser. Dieses Muster findet man übrigens überall dort, wo die Anschlussfindung hauptsächlich über die Verbreitung von Dokumenten funktioniert, so etwa auch an Universitäten (Professor – Studierende), Parlamenten (Abgeordnete – Wähler) oder im Vereinswesen (Vorstand – Mitglieder). Bilden sich solche Muster heraus und geraten durch Organisation in Konkurrenz zu einander, stellt sich die Situation ein, dass ein Vorrecht zur Informationsselektion notwendig beibehalten werden muss, um daraus resultierende Strukturen der Kapitalakkumulation durchzuhalten: nur, wer zuerst informiert ist, kann Entscheidungen treffen und Entscheidungen stellen sicher, wer zuerst informiert wird. So hat verloren, wer zuletzt oder wenigstens schon nicht zuerst informiert ist. Daher kommt der Dauerverdacht der Manipulation durch Massenmedien, da stets alle beteiligten Kommunikationssysteme, da sie auf gegenseitiges Informiertwerden notwendig angewiesen sind, plausible Gründe dafür finden, dass sie entweder nicht, nicht vollständig, also einseitig, parteilich, subjektiv oder nicht rechtzeitig informiert wurden: Politiker verdächtigen Journalisten, diese verdächtigen Politiker, Leser und Zuschauer verdächtigen mal die einen, mal die anderen, während die einen und die anderen wahlweise ihre Wähler oder Leser und Zuschauer verdächtigen, von anderern falsch und unzureichend informiert worden zu sein. Zur Lösung daraus resultierender Verwirrungssituationen entstand ein Expertentum, das sowohl Glauben als auch Zweifel über die Berichterstattung ermöglichte, womit jedoch nur eine Dauerirritation sicher gestellt wurde. Denn das gegenseitige Verdächtigungsspiel mit damit ja nicht ausgehebelt, sondern nur professionalisiert.
Die interessante Frage ist nun, was passieren könnte, wenn sich dieses Muster erfolgreich durchsetzt und sich durch seinen Erfolg trivialisert; wenn also das, was man früher einen Emanzipationsprozess nannte, beobachtbar wird. In dem Maße, in dem Massenmedien die Kontingenz ihrer Informationsverbreitung nicht mehr weiter einschränken können, sie sich also bis an die Grenze der Beliebigkeit entfalten, wird andersherum ihr Erfolg sichtbar: immer mehr Menschen sind immer besser informiert. Da aber durch das Internet eine Zentralreferenz der Informationsselektion wegfällt, bleibt eigentlich nur ein fast anarchisches Verdächtigungsgeschehen übrig, das zeigt, dass jeder jedem zu misstrauen hat mit allen daraus resulierenden Phänomen was etwa Trollerei, Beschimpfungen, Desinformation, Virenverbreitung, Spionageattacken und dergleichen. Das Internet wird als eine Informationsanarchie beobachtbar, solange das massenmediale Dispositiv als Beobachtungsschema Verwendung findet.
So erklären sich dann auch die höchst empfindlichen Fragen der Journalisten auf eingangs erwähnter Pressekonferenz. Man kann sehr genau bemerken, wie eifersüchtig die Fragen der Journalisten, aber auch die Antworten sind. Man achte dabei vor allem darauf, wie sehr sich das Frage- und Antwortspiel auf die Berücksichtigung von Interessen der jeweils anderen Seite konzentriert, gleich so, als ob Journalisten schon immer die Bedürfnisse der Politker und diese die Bedürfnisse der Journalsiten prioritär behandelt hätten. In dem Aufgenblick aber, in dem Twitter als Kanal zu Informationsverbreitung in bekannten Selektionsroutinen und Hierarchiemuster eingeschleust wird, stellt man fest, wie sehr die Systeme bei aller Rücksichtslosigkeit, die sie sonst im konkurrenten Geschehen zeigen, auf einander angewiesen sind.
Twitter wirkt hier disruptiv. Es unterläuft die Routinen und Muster und macht sie dadurch erst kenntlich.
Die Erkenntnis lautet, dass die Funktionsweise der Massenmedien erst in derjenigen historischen Situation verstanden werden kann, in welcher sie sich verabschieden. Was aber auch heißt, dass die Strukturen, die das ermöglichen, selbst nur latent wirksam sind.

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