Das Internet – eine kurze Zwischenbilanz der Rationalitätsentwicklung
von Kusanowsky
Streng genommen kann man sehr froh sein, dass die Zeiten vorbei sind als noch vernünftige Vorschläge zur Lösung von Problemen erwartet wurden. Zwar haben sich diese Erwartungen nicht gänzlich verflüchtigt, da entsprechende Strukturen der Problemerzeugung immer noch aktiviert werden können, aber die Ansprüche an Vernunft haben sich doch reichlich liberalisiert, was man daran erkennen kann, dass es gar nicht schwer fällt, ein buntes Bild der Aporien, auf die man sich gegenwärtig einlassen muss, zu zeichnen, ohne zugleich ob der beobachtbaren Verwirrungen verzweifeln zu müssen. Man kann zwar immer noch auf irgendeine Art von Vernunft bestehen, aber sich gleichzeitig angesichts der unhaltbaren Ergebnisse solcher Forderungen auf Indifferenz zurück ziehen – sich also die Welt egal sein zulassen, über welche sich engagiert zu erregen sich dennoch lohnen könnte.
Das bunte Bild ergibt sich aus einem höchst verkürzten Potpourri sich miteinander verschränkender Diskussionen. Das Internet ist angeblich ein gigantischer Datenspeicher, der nichts vergisst, weshalb es sinnvoll wäre, eine Kultur des Vergessens einzuführen. Dazu zählt auch die Möglichkeit der Verwendung des digitalen Radiergummis, obwohl jedem klar ist, dass das nicht durchsetzbar ist, geschweige denn eine kulturelle Praxis des kollektiven Vergessens durch Vereinbarung. Denn wie könnte man unter solchen Bedingungen sicherstellen, dass eine solche Vereinbarung, wie auch immer sie durchgesetzt werden könnte, nicht in Vergessenheit gerät, wo doch Vergesslichkeit der normale Fall ist? Gleichzeitig aber gibt es wissenschaftliche Projekte, die sich um die Zitierfähigkeit von Internet-Dokumenten bekümmern, da im Netz sehr viel gelöscht wird, was eigentlich unwissenschaftlich ist, da alle Wissenschaft das Prinzip der Überprüfbarkeit von Dokumenten sicher stellen müsste, weshalb die Einführung eines Internet-Archivs dringend angezeigt wäre. Dagegen stehen aber andere Gewissheiten, die besagen, dass man im Internet im Prinzip nichts löschen könne, weil erstens jede Datenmenge jederzeit irgendwo gespiegelt werden könnte; und zweitens gäbe es Webcaches, in denen sie auch nach der Löschung auf einem Server abrufbar bleiben. Trotzdem erscheint es im Kampf gegen Kinderpornographie vernünftig, bestimmte Seiten zu löschen statt sie zu sperren. Zwar weiß man, dass es sich in dem Fall bei Löschungsmaßnahmen nur um ein Katz-Maus-Spiel handelt, das der Polizei eine bessere Ausgangsposition verschafft, aber lösen kann man das Problem durch Löschung nicht und angeblich schon gar nicht durch Sperrung, weil solche Hindernisse viel einfacher zu überwinden sind. Aber auch wenn einsichtig wird, dass Internetsperrung ein untaugliches Mittel ist, gibt es keinen Grund, es nicht zu versuchen, etwa indem man Seiten von Glückspielanbietern sperrt. Dass man damit aber an politischer Urteilskompetenz verlieren könnte, ist gar kein entscheidendes Argument, weil diese Inkompetenz schon zu einem anderen Thema eingestanden wurde, nämlich bei der Regelung eines Jugendmedienstaatsvertrages. Und wo von Kinder- und Jugendschutz die Rede ist, darf gewiss von Datenschutz nicht geschwiegen werden. Die dringlicher werdende Notwendigkeit eines Datenschutzes scheint „irgendwie“ mit dem gleichzeitigen Zweifel daran zu wachsen. Aber wie sollte ein Staat Datenschutz garantieren, wenn er selbst immer weitergehende Forderungen hinsichtlich einer Datenvorratshaltung stellt; ja überdies mit illegalen Datendealern legale Geschäfte macht? Und wie sollten Datenschützer ihrem Job nachgehen können, wenn ihnen bei Facebook die Kundschaft wegläuft? Dass aber Mark Zuckerberg, der Guru einer post-privacy-Laber-Gruppe, selbst wenig von Datenoffenheit hält, indem das Unternehmen seine eignen Geschäftsdaten geheim hält, ist ob der Unübersichtlichkeit der Lage nur eine Petitesse und lohnt nicht einmal das Schmunzlen, wenn man daran denkt, wie einfach es inzwischen ist, enorme Mengen an Geheimdaten zu leaken. Und übrigens haben die Whistleblower natürlich das selbe Problem wie ihre Gegenspieler, dass sie nämlich sichere Datentresore brauchen, um ihre Anonymität zu garantieren. Habe ich irgendetwas Entscheidendes vergessen, das das Bild abrunden würde? Wahrscheinlich, aber das macht es nicht noch irrer.
Wie gut also, dass die Ansprüche an Vernunft einigermaßen ausgeleiert sind. Denn wer will angesichts dieser Komplextität noch glauben wollen, man könne all das ordnungsrational regeln? Sicher, Vorschläge dazu werden jeden Tag ausgestossen, was nur deshalb geht, da Differenzen überall sehr unterschiedlich behandelt werden und man sich nicht um die Vernunft der anderen bekümmern muss. Es reicht völlig, dass man sich von der eigenen beeindrucken lässt. Alles andere kann der Zukunft überlassen bleiben, weil nichts so gewiss ist wie eine Zukunft, von der man nichts weiß.
Ich twittere erst seit kurzer Zeit. Bin durch twitter auf diesen Block gestossen. Erster Schnelleindruck und erste Übersicht: grosse Klarheit der Argumentation. Ich wollte, in der „Luhmannliste“ hätte man/frau im – sagen wir locker – letzten Jahr solche Töne gefunden. Auch der Trollbegriff, der in diesem vergangenen Jahr in dieser Liste so viel Verwirrung gestiftet hatte, ist mir jetzt hier erst richtig deutlich geworden durch den Hinweis auf den Vortrag von Sascha Lobo. Es ist jetzt spät und ich bin müde. Aber morgen und danach ist ja auch noch ein Tag.
Am meisten interessiert mich die – immer noch viel zu vernachlässigte – Medium/Form-Differenz als konkrete Anwendung in weitgefächerten Alltagssituationen.
Freundliche Grüsse und weiter alles Gute.
@Rudolf Anders – ich hatte die Diskussion auf der Luhmann-Liste verfolgt und mir mein Teil gedacht. Das Mailinglisten-Verfahren ist noch ganz angepasst auf ein Dispositiv der Massenmedien, das notwendig sich exponierende Persönlichkeiten braucht, entweder um diese zu bewundern oder um sie zu schmähen. Was ich an den Diskussionen in dieser Liste interessant fand war, dass es dort nicht möglich war, die Bedingungen der Kommunikation erkennbar zu machen. Ein ganz typisches Beispiel dafür das zeigt, dass Soziologie und ihre Soziologen auch nicht besser mit Gesellschaft zurecht kommen als alle anderen, was auch heißt, dass sie sie nicht besser verstehen. Verblendet wird dies durch den bekannten akademischen Bluff, der in dem Bullshit-Gelaber von Beratern und Coaches sein Gegenstück findet und solange funktioniert, so lange man meint, etwas dagegen unternehmen zu müssen. Denn der Bullshit ist ja nur eine Variante der Trollerei und es käme darauf an, dies ernst zu nehmen, statt es zu vermeiden oder gar zu bekämpfen.
„das zeigt, dass Soziologie und ihre Soziologen auch nicht besser mit Gesellschaft zurecht kommen als alle anderen, was auch heißt, dass sie sie nicht besser verstehen. “ Ist das nicht eine implizite Forderung nach Veri/Falsifizierbarkeit von soziologischen Theorien?
@siggi „Ist das nicht eine implizite Forderung nach Veri/Falsifizierbarkeit von soziologischen Theorien?“ Das ist eine gute Frage. Vielleicht könnte man die Betrachtungsweise umkehren und fragen, ob es tatsächlich einen privilegierten Zugang zum Verstehen der sozialen Welt geben könnte, z.B: durch Methoden; und so könnte man anschließend überlegen, dass privilegierte Methoden es ermöglichen, von den Zumtungen des Sozialen verschont zu bleiben und zwar ohne sich dem Sozialen zu entziehen. Entsprechend müssten nicht die dafür tauglichen Methoden unter Beweis gestellt werden, sondern die untauglichen. Mir scheint, dass im Anschluss an den Loboschen Versuchen der Trollforschung solche Methoden entwickelt werden könnten, indem Trolle anfangen sich gegenseitig als Trolle zu beobachten und zu erforschen und zu schauen, wem als erster die Zumutungen zur Fortsetzung der Kommunikation so groß oder zu riskant werden als das man es sich noch leisten könnte, damit weiter zu machen. Es ging dann nicht ums Rechthaben, um Kriterien der Vernunft, der Logik oder Maßstäbe einer Moral oder um eine Diskursethik, sondern um die Einschränkung von Anschlussfindung bei gleichzeitiger Beibehaltung jeder erdenklichen sozialen Freiheit: wem als erstes egal ist, wie die Geschichte weiter geht, hätte dann gewonnen, ohne dafür gepriesen und gelobt zu werden. Die Verlierer dieses Spiels wären dann nur diejenigen, die einer Stressroutine noch nicht entkommen sind. Man denke dabei an die Situation des Trolljägers Lobo: Hat die Jagd gewonnen oder verloren? Soweit ich sehen kann, ist gerade sein Herausposaunen hilfreicher Trollmethoden eine Fortsetzung einer Stressroutine: die Angriffe gegen ihn gehen weiter.
Nachtrag für Siggi: http://www.basicthinking.de/blog/2011/04/17/basic-flashback-der-tag-an-dem-ich-einen-leser-bat-zu-verschwinden/
[…] akutell zu gegenwärtigende Rationalitätsentwicklung des Internets, gemeint sind damit die unausweichlichen Widersprüche, die der modernen Gesellschaft ja schon […]