Differentia

Scheitern – ein Desiderat der Moderne

Ankündigung einer Tagung

Scheitern gehört zu den grundlegenden Alltagserfahrungen und wirkt – massenmedial inszeniert – auch als erfolgreicher Zuschauermagnet. Das Scheitern selbst tritt in vielerlei Formen auf: sei es als Verlierer im Wettkampf, als Derangierte und Prekäre, als Geschiedene, als unternehmerische Insolvenz, als Katastrophe, als Zielverfehlung, als Chance für den Neuanfang, ja selbst als epistemologische Abschlussformel, nämlich als Falsifikation. Scheitern wohnt eine heimliche Prominenz inne. Es verbirgt sich hinter dem Erfolg, der seine Faszination auch der Möglichkeit des jederzeit drohenden Scheiterns verdankt.
Gegenläufig dazu findet das Scheitern hinsichtlich seiner begrifflichen Bestimmung und empirischen Beschreibung nur unzureichend Beachtung in den Sozialwissenschaften. Allein die Organisationssoziologie befasst sich systematischer mit dem Scheitern. Doch bildet Scheitern hier meistens die negative Folie für den Nachweis besonders erfolgreicher Lösungen. Die Bedeutung von Scheitern lässt sich offensichtlich nur im Zusammenhang mit der jeweiligen Bestimmung von Erfolg präzisieren. Und umgekehrt ermöglicht erst die Reflexion des Scheiterns eine differenzierte Bestimmung des gesellschaftlich so selbstverständlich bevorzugten Erfolges. Dabei gilt es über die einfache Kontrastierung von Scheitern und Erfolg hinauszugehen und neben einem gehaltvollen Begriff des Scheiterns auch einen differenzierten Begriff des Erfolges zu entwickeln und beide Begriffe auf ihre Wechselwirkung hin zu befragen. In dieser Perspektive kann man beobachten, dass eine Ordnungsstruktur wie der Finanzmarkt partiell scheitern und gleichzeitig ihr Scheitern (eine gewisse Zeit lang) hinter einer Erfolgsrhetorik verdecken kann. Und umgekehrt gilt die Aufrechterhaltung von Routinen und die Herstellung alltäglicher Ordnung bei weitem nicht als Erfolgsstory-, auf die man sich stolz beziehen könnte. Die damit angesprochenen Unterscheidungen machen eigenartige, paradox anmutende Konstellationen von Scheitern und Erfolg sichtbar. Hier kann man an das erfolgreiche Scheitern einerseits und den scheitern-den Erfolg (Pyrrhussieg) andererseits denken.
Dass es also aussichtsreich sein könnte, sich mit dem Scheitern in dieser Weise auseinanderzusetzen, deutet sich nicht nur in der medialen Prominenz und alltäglichen Allgegenwart dieses Gegenstands an, sondern auch in den komplexen Verweisungszusammenhängen, die mit Fragen nach Bedingungen von Erfolg und Misserfolg individueller Lebenspraxis, von organisationalem Wandel und sozialer Ordnung angesprochen sind. Das Potenzial einer Perspektive des Scheiterns liegt darin, Erfolgsaussichten von Planung, Steuerung, Kontrolle und Komplexitätsreduktion ex negativo kenntlich zu machen. Denn erst durch das Nachvollziehen des Scheiterns von Strukturen oder Intentionen können zugleich die Bedingungen des Gelingens auf verschiedenen Analyseebenen weiter expliziert werden.
Ziel der Tagung ist es, Scheitern als Perspektive in drei Hinsichten zu diskutieren: Zunächst gilt es, einen Begriff des Scheiterns vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels zu präzisieren, wobei auch der Erfolg als Gegenbegriff Berücksichtigung finden soll. Weiterhin ist der Begriff des Scheiterns hinsichtlich seiner strukturellen, normativen und semantischen Implikationen auszuformulieren, um daraus weiterführende Analysepotenziale zu gewinnen. Auf dieser Grundlage kann die empirische Beobachtung des Scheiterns in seiner Formenvielfalt thematisiert werden.
Leitfragen der Tagung sind:
– Welche Begriffe des Scheiterns können formuliert werden, wie kann demgegenüber Erfolg verstanden werden und welche Beziehung besteht zwischen diesen Begriffen?
– Welche Potenziale sind aus der Perspektive des Scheiterns für eine soziologische Analyse abzuleiten, die sich nicht ausschließlich auf gelungene Problemlösungen konzentriert und die sich nicht von scheiternden Strukturbildungen oder Absichten abwendet?
– Wie lassen sich die unterschiedlichen Konstellationen konsistenter wie inkonsistenter Bezüge zwischen Scheitern und Erfolg grundlagentheoretisch fassen und mit

Institution: Leibniz Universität Hannover, Institut für Soziologie
Beteiligte Personen: Dr. René John, Dr. Jens Bergmann, Dipl-Soz. Antonia Langhof, Prof. Dr. Gabriele Wagner
Kontaktperson: Dr. René John
Email: tagung-scheitern@ish.uni-hannover.de
Adresse: Leibniz Universität Hannover
Institut für Soziologie
Im Moore 21
30167 Hannover

Differenz von Risikostrukturen #restrisiko #ökostrom

Was machen Ökostrom-Benutzer eigentlich wenn es im Winter wochenlang trübe und windstill ist?

Auf meiner Pinnwand bei Facebook fand ich heute diese Frage, gestellt von einem bekennenden Atomkraftbefürworter. Das Bemerkenswerte dieser Frage liegt in der Zusatzinformation über das Bekenntnis des Fragestellers, das typisch ist für ideologische Diskussionen.
Ideologische Diskussionen entstehen erstens durch eine vollständige Illusion über die Einschränkung von Kontingenz, woraus eine Beoachtungsweise resultiert, die nur dies und nichts anderes in Erwägung ziehen kann, eine Beobachtungsweise, die mit der durchhaltbaren Möglichkeit des Erwartens von Bestimmtheiten operiert; und zweitens führt dies notwendig in eine double-bind-Situation, die einen Ausweg aus der Verstrickung in Selbstwidersprüchen im Extremfall über die Beherrschung von Angst erprobt, weil Kontingenz als Option nur sehr eingeschränkt ausgeschaltet werden kann. Nicht selten führt die Nichtbeherrschbarkeit von Angst in Gewaltausbrüchen oder wenigstens in gesteigerter Erregungsfähigkeit, denn Gewalt oder Erregungssteigerung stellt sicher, dass anders gerartete Irritationen auftreten, welche von der Ausweglosigkeit einer Beobachtungssituation des double-binds ablenken.
Das gilt insbesondere für die in Atomstreitdiskussionen häufig zu findende Anweisung, nicht ideologisch zu argumentieren. Denn diese Anweisung impliziert stets, dass die Antwort auf die Frage, was Ideologisch ist und was nicht, schon bekannt und bestimmt sei; man also einen Unterschied zwischen ideologischen und nichtideologischen Argumenten unterstellen und sicher erwarten könne, dass alle Beteiligten die anfallende Sinnkomplexität trennscharf zuordnen könnten. Und wenn man Diskussion, wie sie in Talkshows geführt werden, darauf hin beobachtet, ob dies gelingt, dann wird man punktgenau mit einer Eskalation, mit einer Steigerung der Erregungsfähigkeit aller Beteiligten rechnen können, wenn diese Unterstellung als Beobachtungsdefizit in allem Beiträgen durchgereicht wird, weshalb schon unterhalb einer Schwelle, die eine explizite double-bind-Situation erkennen lässt, die anfallenden Widersprüche durch gesteigerten Kontrollverlust über Affektbewegungen kommunkativ ausgelagert werden.
Man kann das empririsch sehr gut bei solchen Anne-Will-Talkshows überprüfen: zunächst sehe und höre man zu bis jeder in der Runde von der Moderatorin das Wort erteilt bekommen hat. Dann warte man noch bis man feststellt, dass die ersten Redner ihre Argumente wiederholen. Sobald man dies bemerkt, schalte man den Ton ab und stelle sich die Frage: Was kann man sehen? Da man ja schon weiß wer anwesend ist und welchen ideologischen Standpunkt jeder einnimmt, so kann man, wenn auch nicht genau, so doch ausreichend ahnen, was gesagt wird, aber dabei konzentriere man sich auf die sogenannten non-verbalen Zeichenverkettungen wie Bewegungen des Oberkörpers, Bewegungen der Hände, der Beine, der Mimik und achte darauf, ob man eine Steigerung der gegenseitigen Redeunterbrechung bemerken kann. Nach mehrmaligen Versuchen stellt man ein deutliches Muster der Frequenzsteigerung fest. Und wenn man das mal geübt hat, kann man bei einem weiteren Testdurchlauf auch wieder den Ton einschalten. Auch wenn dieses Experiment einige Wochen dauert, weil man ja etwas die eigene Beobachtungsweise bemühen muss, so wird man doch einen höchst verblüffenden Eindruck von solchen Diskussionen bekommen. Man wird das, was man Logik, Rationalität, Widerspruchsfreiheit nennen möchte nach einiger Zeit gar nicht mehr vermissen, weil man schon gar nicht mehr darauf achtet. Täte man das aber, versuche man also dann wieder dem zu folgen, was gesagt wird, so stellt man ein Höchstmaß an Verwirrung fest und man fragt sich, wie das die Beteiligten nur aushalten können. Die Antwort liegt natürlich darin, dass sie dies gar nicht merken, oder erst dann, wenn die Affektkontrolle gänzlich scheitert, wie man dies an diesem schon älteren freak-out-Beispiel in einer Talkshow mit Angela Merkel feststellen kann. (Siehe dazu auch den Artikel: Performanz – die Risikostruktur der Dokumentform.)
Im schlimmsten Fall muss es sogar zu Gewalt kommen, weil die Affektbewegungen des Körpers irritativ auf Affektbewebungen anderer Körper reagieren, einen Effekt, den jederzeit bei Schulhofprügeleien unter Kindern bemerken kann. Aber auch bei dem Phänomen „Liebe auf den ersten Blick“ wird man so etwas bemerken können. Der Körper ist ein selbstunterscheidender Beobachter, der sich in seinen Bewegungen nicht nach dem richten kann, was sinnhaft in der Kommunikation entwickelt wurde.
Zurück zur Eingangsfrage. Wenn man beurteilen will, wie man das verstehen kann, was man schon verstanden hat, so kommt es unbedingt darauf an, eine zweite Struktur der Differenzbildung in Erwägung zu ziehen: Erstens kommt es auf die Differenz von Information und Mitteilung an, die die kommunikative Situation auf einer sachlichen Ebene zerteilt; und zweitens auf die Frage: wer redet oder schreibt, wodurch sich eine soziale Ebene entfaltet, die eine sinnhafte Verfolgung von Differenzen ermöglicht. Es macht daher für eine Beobachtung einen erheblichen Unterschied wenn man weiß von wem die Frage gestellt wird. Von Atomkraftgegenern wird die Frage nach einem Restrisiko der Stromversogung durch regenerative Energien ständig gestellt, aber nur ein Atomkraftbefürworter kann daraus eine ideologische Frage machen, da er diese Frage rhetorisch als Einwand gegen ein nicht kalkulierbares Restrisiko des Ökostroms vorträgt. Andersherum gilt Vergleichbares: die rhetorische Frage nach der Kontrolle eines Restrisikos der Atomstroms wird, wenn von Gegnern vorgetragen, nur als ideologisch motivierter Einwand betrachtet, da doch die nukleare Ingenieurwissenschaft gleichsam nichts anderes ist als eine differenzierte und komplexitätsbildende Forschung der Behandlung dieses Risikos.
Wollte man dagegen einwenden, Risiko sei nicht gleich Risiko, das Risiko im Dunkeln zu sitzen sei ein ganz anderes als das der atomaren Verstrahlung, so kommt auf der Sachebene kaum weiter ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. Der Weg führt dann – wie eingangs bemerkt – nur in die Steigerung der Irritativität und anschließender Umorientierung durch Beobachtung von Affekten.
Damit soll gesagt sein: die Anweisung, jenseits von ideologischen Betrachtungsweisen zu diskutieren, führt notwendig in die ideologische Enge, weil nämlich diese Anweisung selbst ideologisch blockiert ist, da sie Vorannahmen impliziert, deren Explikation immer wieder auf den gegenseitigen Vorwurf der ideologischen Voreingenommenheit führt.
Die Situation erweist sich als ausweglos, solange man auf der Basis implizierter Anforderungen an Beobachtbarkeit erwarten kann, dass ein Ausweg gefunden werden müsste. Wollte man es dabei belassen, eine Entscheidungssituation über die Beherrschbarkeit von Technik einerseits und der Beherrschung von Angst, die ja im Technikgebrauch immer eine Rolle spielt, andererseits herzustellen, so wird man auch hier in die Irre geführt werden, denn erfahrungsgemäß münden alle Versuche zur vollständigen Beherrschung der Angst in eine faschistische Ideologie.