Performanz – die Risikostruktur der Dokumentform

von Kusanowsky

Bei autopoiet ist im Anschluss an einen Bericht über das Ende der transmediale von Arne Bense ein Artikel gepostet worden, in welchem der Frage nachgegangen wird, mit welcher Unterscheidung man den live-Charakter von Ereignissen bezeichnen könnte; und sowohl in dem Artikel bei autopoiet als auch im vorhergehenden bei Arne Bense findet man, insbesondere, wenn man auch den kurzen Kommentarwechsel dort berücksichtigt, einen hübschen Blumenstrauss an Verwirrungen, die versuchen, einen genauen Unterscheidungsgebrauch definitorisch festzulegen. Bei autopoiet heißt es schließlich: „Tja – da bin ich mit meinem Latein am Ende … kreist das Problem am Ende um die Differenz von »Interaktion/Dokument«? Das kann aber nur empirisch, das heisst unter Beobachtung von Beobachtungen und ihrer Ontogenese geklärt werden… oder?“ – Ob es überhaupt geklärt werden kann, geklärt werden muss? Aber zunächst jenseits der Frage, wie der Unterscheidungsgebrauch zu bestimmen wäre, fällt die Beobachtung auf, dass ein solches Problem überhaupt entsteht, weshalb zu fragen wäre: warum gerade gerade jetzt, wo sich die Dämonien der digitalen Medien verbreiten? Warum nicht schon mit der Erfindung des Telefons? Woher kommt der Klärungsbedarf? Und es mag die Vermutung naheliegen, dass Probleme erst dann zu Bewusstsein kommen wenn das Interesse an ihnen einher geht mit dem Verschwinden dessen, wofür man sich interessiert. Insofern scheint die Überlegung des bei Arne Bense zitierten Medientheoretikers Wolfgang Ernst nahezuliegen, dass der live-Charakter von Ereignissen mit den digitalen Medien endet; eine Behauptung, die prompt eine widersprüchliche Einschätzung provoziert. Damit wäre das Problem entstanden.
Ich möchte zunächst noch etwas bei einigen ökonomischen Überlegungen der Theoriebildung verweilen und Fragen nach der „Wirtschaftlichkeit“ des Problems stellen. Diese Fragen könnte man so stellen: Welchen Erkenntnisfortschritt erzielt man, wenn man den Unterscheidungsgebrauch für Ereignisse mit live-Charakter herausfindet? Andersherum gefragt: Was bliebe sonst noch unklar, wenn nur dieses unklar bliebe? Und, wenn man die Frage klären könnte, was würde anschließend auch noch klar werden? Kurz, ein ökonomisches Argument könnte die Frage stellen: lohnt sich das Nachdenken überhaupt? Denn streng genommen könnte man im Umkreis systemtheoretischer Überlegungen schnell fündig werden, wenn man die Operativität der Systeme berücksichtigt. Sinnsysteme behalten und bewahren, speichern und dokumentieren nichts, sondern ordnen Informationen. Bei Informationen handelt es sich um Ergeignisse, die einen Systemzustand ändern und mit ihrem Aufkommen sofort wieder verschwinden. Dabei könnte man es belassen und stattdessen verwundert einen Beobachter beobachten, der irgendwelche Zweifel über den live-Charakter sagen wir eines Konzerts äußert, bei welchem Audio- und Videosequenzen von einem Gerät abgespielt werden, statt, dass die Töne von Menschenhand durch Bearbeitung irgendeines quietschenden Dings erzeugt werden. Das Konzert wäre entsprechend nicht vollständig „live“ aufgeführt. Statt nun den Beobachter über systemtheoretische Zusammenhänge zu belehren, denn Beobachtungssysteme lassen sich nicht von anderen belehren, wäre zu fragen: wie kommt er denn darauf? Die Frage lautet dann nicht, was „live“ im Unterschied zu etwas anderem bedeutet, sondern, welche Erwartung wird erfüllt oder enttäuscht, wenn Ereignisse als „live“ oder als „nicht-live“ unterschieden werden können? Aber auch diese Frage muss man selbst beantworten, weil ein anderer nicht wissen kann, was ein anderer wissen will.
In diesem Fall geht wohl um Erwartungen, die sich um die Unterscheidung von Performanz und Dokumentation drehen. Ein jedes Dokumentationsverfahren erzeugt Sinnkondensate entlang strukturierter Unterscheidungsroutinen, die, neben anderen Erfordernissen, insbesondere Wiederholbarkeit in Aussicht stellen; Wiederholbarkeit eröffnet wiederum einen weiten Horizont an routinisierbaren Unterscheidungen, die etwa in Kausalitätsberechnung münden, aber auch Erwartungen von Perfektionierung und Steuerung, da durch Wiederholungen Unterschiede als Defizite wahrnehmbar gemacht werden können. Nicht zufällig war die kulturhistorische Formentwicklung des Dokuments auf ihrem Höhepunkt geknüpft an Fortschrittsgläubigkeit und Weltbeherrschung, Weltverbesserung und schließlich – soweit durch diese Form auch die Defizitbeobachtung verbessert wurde – auch die Rettung der Welt.
Die moderne Gesellschaft entwickelte eine dementsprechende Risikowahrnehmung des Scheiterns durch Radikalisierung all dessen, was durch die Dokumentform noch zum Ausdruck gebracht werden kann, inklusive all der manifesten und latenten Gefährdungen, die sich daraus ergaben: Relativitätstheorie, Dadaismus, Zwölftonmusik, Radioaktivität, Psychonalyse, Faschismus und LSD haben in dieser Hinsicht mehr miteinander gemeinsam als man landläufig annehmen möchte. Die Massenspektakel von Musikonzerten stehen darum nicht allzu weit entfernt von Parteitagen beispielsweise oder Vorträgen auf Wissenschaftskongressen. Bei solchen Gelegenheiten wird das Risiko des Scheiterns überprüft, sofern die Performanzfähigkeiten von Musikern und Rednern den Erwartungen der Dokumentform gerecht werden können: Man möchte sie scheitern sehen wodurch im Enttäuschungsfall Begeisterung gezeigt werden kann. Daher die Vorbehalte gegen Reden, die nur abgelesen werden, gegen Musiker, die zum Playback hampeln, gegen Schauspieler, die ihren Text nur aufsagen, weil sie sich damit gegen die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns schützen wollen. Alle Performanz ermöglicht die Beobachtung der Risikostruktur der Dokumentform. Wer in den 90er Jahren mal an einem Poetry-Slam teilgenommen hat wird das nachvollziehen können. Die Begeisterung im Publikum war grenzenlos, wenn die Erwartung des Scheiterns enttäuscht wurde und zwar deshalb, weil ein Poetry-Slam sich dadurch auszeichnete, dass das Scheitern an der Aufforderung zur „geplanten Spontaneität“ wahrscheinlicher ist als das Gegenteil.
Die hohen Erwartungen an Performanz kommen dadurch zustande, dass das Dokumentschema nach Maßgabe eines anderen Schemas beurteilt werden muss, sobald das Dokumentschema in seinen Möglichkeiten gleichsam enträtselt ist. Kulturhistorisch ist es etwas ganz verschiedenes, wenn etwa ein Walther von der Vogelweide ein Lied vor einer höfischen Gesellschaft vortrug und Michael Jackson seinen Moonwalk vorführte. Man schaue sich das kurze Video einmal an und achte darauf, wie die Täuschung im Tanzschritt entsteht, die eine Bewegung nach hinten vollzieht, obwohl eine Bewegung nach vorne angetäuscht wird, gleich so als stünde der Tänzer auf einem Fließband. Man sieht: es geht um Simulation, die eine Vertauschung von Bewegungsebenen wie in einem Vexierspiel erprobt. Das Kunststück besteht dabei aber nicht in Täuschung, sondern darin, durch die Tanzbewegung den Unterschied von Täuschung und Enttäuschung zu markieren. Das Meisterstück der Performanz besteht darin, Erwartungen selbstreflexiv beobachtbar zu machen.
Was man auch immer als ein live-Ereignis bezeichnen möchte ist eine Frage, eine andere ist, durch welche Elemente ein Dispositiv von Unterscheidungsmerkmalen arrangiert werden kann, das Erfüllung und Enttäuschung von Erwartungen in Aussicht stellt. Wenn die Möglichkeiten der Dokumentform durch ihren Erfolg zerrüttet werden, so wird die andere Seite dessen, was durch die Dokumenform ausgeblendet wurde, immer interessanter.