Die Simulierbarkeit von Dokumenten
von Kusanowsky
Verfolgt man Aufkommen und Konjunktur von Gegenständen und Themen historisch orientierter Forschungen, wird man immer wieder feststellen können, dass das Interesse an bestimmten Forschungen einher geht mit dem Verschwinden dessen, wofür man sich interessiert. Schon bei den Brüdern Grimm war die Dokumentation von populären Erzählstoffen ein Reflex auf das Verschwinden von Volksmärchen; ein wirtschaftshistorisches Interesse an einer „Arbeiterkultur“ kam zu einem Zeitpunkt auf, zu dem die Dienstleistung längst der größte Wirtschaftsektor war und die Erfindung der Antiken-Archäologie im 18. Jahrundert registrierte einen Abbruch und Beseiteräumen von Ruinen, die einem modernen Bauprogramm im Wege standen. Nicht anders auch die Entdeckung der Bedeutung des Buchdrucks, dessen Relevanz erst fokussiert werden konnte als zugleich der Bedeutungsschwund dieser Technologie als epochaler Kulturwandel thematisert wurde.
Diese Reflexion geht zurück auf Verschiebungen, die sich im medialen Dispositiv der postindustriellen Gesellschaft abzuzeichnen beginnen. Ein Buch wird durch die sukzessive Folge seiner Seiten immer linear gelesen. Das Internet erlaubt dagegen eine Hyperstruktur. Von einem Satz kann man nicht nur zu jenem gelangen, der, wie in einem Buch, diesem folgt, sondern es ergeben sich mehrere Möglichkeiten. Je mehr Verknüpfungen möglich sind, umso mehr potentielle Lektüren sind akualisierbar. Dadurch ergibt sich für Texte ein anderes Beobachtungsschema. Der Leser verbleibt damit nicht mehr als passiver Rezipient des Produktionsprozesses von Texten. Es können Verbindungen hergestellt werden, die den Autoren nicht bewusst waren und die erst durch den Leser entstehen. Diese Textstruktur ist identisch mit der Struktur eines Netzes, durch das dieser Text entsteht. Nicht mehr die eindeutige Folgerung eines Sachverhalts aus einem vorhergehenden Argument prägt dann eine Argumentationsweise, sondern die Anschließbarkeit eines Textpartikels an einen anderen stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Im Kontext der Simulierbarkeit von Dokumenten rückt an die Stelle von Geschlossenheit der Argumentationen die Beachtung der Anschlussfähigkeit und Vernetzbarkeit. Alle Argumentation entzieht sich so der Dokumentierbarkeit und erscheint performativ als Simulation, die ihrerseits als Wechsel der medialen Struktur durch das Internet in Erscheinung tirtt.
Die Annahme, dass das Medium eine Rolle für die Konstitution von Erkenntnis in den Wissenschaften spielt, ist eine logische Folge aus Entwicklungen über die Annahme des historischen Gegenstandes; und sie ist eine logische Konsequenz aus wissenschaftsimmanenten Entwicklungen der jüngsten Zeit, welche sich ihrerseits als Reflex und Symptom einer sich medial fundamental wandelnden Welt zeigt.
Sind die Medien erst einmal als Forschungsgegenstand entdeckt, ist es nur konsequent, wenn die Wissenschaften selbst als mediale Ereignisse begriffen werden. Entsprechend ist die Forderung nicht abseitig, die besagt, dass Wissenschaften die Medien mitreflektieren müssten, in denen sie Erkenntnisse formulieren und vermitteln. Die Frage nach dem Einsatz differenter Medien in der Erkenntnisformulierung und –vermittlung vereinigt entsprechend wissenschaftstheoretische und gestaltungspragmatische Fragestellungen, da man nun bemerkt, dass sich Texte und Bilder im digitalen Zeitalter aufgrund ihrer gleichförmigen Bearbeitung im digitalen Code stärker als bisher aneinander annähern, auch wenn noch gelten mag, dass sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption dieser beiden Dokumentformen nach wie vor bedeutende Unterschiede bestehen.
In diesem Zusammenhang wird dann aber auch die Bedeutung von Rationalität als diskursive Logik prekär, weil alle Rationalität linear verfährt, indem sie Argument an Argument reiht und schlüssig auseinander entwickelt. Der Text gilt dann nicht mehr als distanzbildendes Dokument, in dem sich die diskursive Logik einer selbstkritischen Wissenschaft am effektivsten entfaltet. Und insofern verliert auch Sprache ihre identitätsstiftende Funktion, weil Annahmen nicht mehr haltbar sind, durch die Sprache als Ausdrucksmittel zur Bezeichnung von Realität begreifbar wird. Mit einem konventionellen Verständnis monolinearer Logik konnte man Rationalität sprachlich am adäquatesten formulieren, weil damit Vorstellungen über Eindeutigkeit von Rationalität und Identität von Sprache in der Dokumenform zusammenfielen. Dieses Vertrauen in Linearitäten, in Eindeutigkeiten und damit auch in Rationalität zerfällt nun. Methoden der Textkritik, wo sie nicht der Rechenfähigkeit von Computer überlassen werden können, verlieren für einen Diskurs genauso an Relevanz wie hermeneutische Interpretationsansätze. Aber das heißt nicht, dass Texte und Bilder verschwinden, sondern nur, dass ihre Materialität auf ihre performative Fähigkeit zur Fortsetzung von Simulation hin überprüft werden.
[…] verbreiten? Warum nicht schon mit der Erfindung des Telefons? Woher kommt der Klärungsbedarf? Und es mag die Vermutung naheliegen, dass Probleme erst dann zu Bewusstsein kommen wenn das Interesse an ihnen einher geht mit dem […]
[…] kursierend zu lesen. Er ist damit schon in diesem, wenn auch sehr niederen Bereich einer gewissen Linearität bei der Rezeption entbunden. Ein weiterer in diesem Zusammenhang wichtiger Aspekt ist der, dass im Gegensatz zur […]
[…] Ein Buch wird durch die sukzessive Folge seiner Seiten immer linear gelesen. Das Internet erlaubt dagegen eine Hyperstruktur. Von einem Satz kann man nicht nur zu jenem gelangen, der, wie in einem Buch, diesem folgt, sondern es ergeben sich mehrere Möglichkeiten. Je mehr Verknüpfungen möglich sind, umso mehr potentielle Lektüren sind akualisierbar. Dadurch ergibt sich für Texte ein anderes Beobachtungsschema. Der Leser verbleibt damit nicht mehr als passiver Rezipient des Produktionsprozesses von Texten. Es können Verbindungen hergestellt werden, die den Autoren nicht bewusst waren und die erst durch den Leser entstehen. Diese Textstruktur ist identisch mit der Struktur eines Netzes, durch das dieser Text entsteht. Nicht mehr die eindeutige Folgerung eines Sachverhalts aus einem vorhergehenden Argument prägt dann eine Argumentationsweise, sondern die Anschließbarkeit eines Textpartikels an einen anderen stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Im Kontext der Simulierbarkeit von Dokumenten rückt an die Stelle von Geschlossenheit der Argumentationen die Beachtung der Anschlussfähigkeit und Vernetzbarkeit. Alle Argumentation entzieht sich so der Dokumentierbarkeit und erscheint performativ als Simulation, die ihrerseits als Wechsel der medialen Struktur durch das Internet in Erscheinung tirtt. (Ausführlicher hier.) […]
Ich muss hier zaghaft widersprechen.
Zunächst, dass das „Interesse an bestimmten Forschungen einher geht mit dem Verschwinden dessen, wofür man sich interessiert.“, halte ich nicht für richtig. M. E. ist es eher so, dass durch das Aufkommen eines neuen Forschungsgegenstandes ein anderes Licht auf den alten geworfen wird. Und dieses neue Licht wurde von Kulturpessimisten schon immer als „verschwinden“ interpretiert.
Schon Platon übt Schriftkritik dahingehend, dass die Schrift den philosophischen Dialog zum Verschwinden bringe. Allein dieser Blog mit seinen Kommentarfunktionen widerlegt diese pessimistische These. Ähnliches könnte man wahrscheinlich auch über die von Dir erwähnte Arbeiterschaft feststellen, die in meiner morgendlichen U-Bahn reichlich vertreten ist — Dienstleistungsgesellschaft hin oder her. Wie gesagt, ein neues Phänomen lässt das alte nicht per se verschwinden.
Das gilt natürlich auch für den Buchdruck und für den linearen Charakter von logischer Argumentation. — da bin ich mir aber nicht ganz sicher, ob ich deinen Standpunkt richtig verstanden habe — Jedenfalls ist doch gerade dieser Text bemerkenswert linear aufgebaut. Ein Argument reiht sich an das nächste. Trotz des zugrunde liegenden Hypertextes, der seinerseits übrigens auch wieder linear aufgebaut ist und sogar Hyperlinks kann ich nur linear folgen. Ich kann zwar aus einem Text heraus linken, aber den Text kann ich nur verstehen, wenn ich ihn ganz linear lese und anschließend den verlinkten und dann nächsten und so weiter…
Entsprechend zerfällt mein Vertrauen in „Linearitäten, in Eindeutigkeiten und damit auch in Rationalität“ nicht wirklich.
Gleichwohl findet ein Wandel statt. Und ich schließe meinen Kommentar — ich kann’s mir nicht verkneifen — mit einem indirekten Wittgenstein-Zitat. Ich glaube in „Über Gewissheit“ liefert Wittgenstein die Flussmetapher der Sprache und du kannst Sprache durchaus durch Symbolsysteme oder Medien ersetzen. Jedenfalls ist Sprache laut Wittgenstein wie ein Fluss. Da gibt es Elemente die wie Wasser sind und schnell davonfließen: sprachliche Moden. Andere, die wie Sediment sind, bei denen man einen langsamen Wandel feststellen kann, auch wenn man ihn nicht augenblicklich sieht: Etymologische Aspekte. Und dann gibt es noch das harte Gestein und das Flussbett, das anscheinend unveränderlich ist, aber im Laufe der Zeit sich eben doch verändert: die Logik, die Linearität der Sprache oder die Rationalität. Aber gerade weil das so langsam vonstatten geht, ist das kein Grund, das Vertrauen zu verlieren. Es heißt ja auch nicht, dass dieser Wandel notwendig zu etwas schlechterem führt.