Überlegungen zur „Schreibameise“
von Kusanowsky
Mit dem Buchdruck und der sich daran anschließenden rasanten Enwicklung von Massenmedien entstand eine Form, die als Figur gegenwärtig ihre letzten Rückzugsgefechte voranzutreiben scheint. Gemeint ist das, was man gewohnt ist, einen Autor, Schrifsteller, Künstler zu nennen, eine Figur, deren Erfolgsleistung in der Ausbildung einer Vorstellung von Urheberschaft gleichermaßen ihren Ausgangspunkt und Voraussetzung und andersherum darin ihre Legitimation eines Führungsanspruchs fand.
Dass ein Mensch Werke „aus sich selbst heraus“ erschaffen könne ist nicht nur eine juristische Formel für die Durchsetzung eines Geschäftsmodells, auch wenn sich die Diskussionen gegenwärtig darin zu erschöpfen scheinen. Tatsächlich ist mit dieser Formulierung die faustische Hoffnung auf Eigen- und Allmacht angesprochen: „aus sich selbst heraus“, was ja heißen könnte, eine beobachtungsunabhängige Beobachterpositon einzunehmen, die in der Vorstellung eines autonomen Subjekts zum Tragen kommt. Interessant daran ist, dass die Fragilität dieser Autonomie schon immer als Schwachstelle erkannt wurde, welche aber durch Flankierung von Schutzmaßnahmen – von welchen die Proklamierung von universellen Menschrechte nur die generalisierende Zupitzung ist – als beherrschbar in Aussicht gestellt werden konnte. Die spezifische moderne Form der Organisation von Erfahrung konnte dies möglich machen. Denn die Dokumentform zeichnet sich insbesondere durch ihre Unzerstörbarkeit aus, solange keine operative Basis gefunden werden kann, aufgrund derer das Dokument nur noch als Alternative behandelbar ist. Gelingt dies aber, wie dieses Jahrzehnt wohl beweisen wird, zerfällt das Dokument zu einer folkloristischen Erinnerung an frühere Zeiten. Eine Prognose dieser Art ist freilich riskant, weil der Irrtum darüber nicht ausgeschlossen werden kann. Umso interessanter ist es also, wenn man entlang empirischer Beobachtungen den „Weg allen Fleisches“ verfolgt, den die Dokumentform und die mit ihr entstandene Vorstellung von Urheberschaft gegenwärtig geht.
Wie kein anderes Internetprojekt ist Wikipedia als Beobachtungsobjekt ideal geeignet um zu verfolgen, wodurch sich eine solche Progonose berechtigt.
Der interessante Anfangspunkt besteht darin, dass die Konzeption einer Universalenzyklopädie wohl nur scheinbar im 19. Jahrhundert beerdigt wurde, was durch die Einsicht in die begrenzten Kapazitäten aufgrund prinzipiell unbegrenzter Möglichkeiten der Wissensproduktion erfolgte. Aber die Einsichten waren nicht allein pragmatischer Art, insbesondere der Aufstieg und die Kritik des Positivismus ließen keine erkenntnistheoretischen Möglichkeiten zu, die durch die Enzyklopädie versprochen werden konnten. Dies betrifft insbesondere Objektivität und Beweisbarkeit des Wissens. Insofern ist Wikipedia wissenstheoretisch ein Rohrkrepierer, aber man wird nicht klüger daraus, wenn man meint, man hätte damit etwas Weiterführendes verstanden. Die in früheren Diskussionen um den Positivismus angesprochenen Hoffnungen tauchen bei Wikipedia wieder auf, aber in angepasster Formulierung: nicht mehr Objektivität, sondern Neutralität; nicht mehr Wissenschaftlichkeit, sondern Relevanz; nicht mehr elitäres Expertum, sondern Verfahren der Qualitätssicherung; nicht mehr Autorschaft, sondern kollaboratives Schreibprojekt. Dass auch bei Wikipedia all das nicht zu befriedigenden Lösungen führt, kann täglich an unermüdlich geführten Löschdiskussionen verfolgt werden, durch welche nur aufgrund von Entmutigungen entschieden werden kann, was on-top abrufbar ist. Warum werden solche Kämpfe um Deutungshoheit eigentlich geführt, wenn man doch mit wenigen Argumenten deutlich machen kann, dass die Wissensproduktion, die in der Dokumentform kondensiert, eben nicht das leistet, was sie in Aussicht stellt? Nämlich: sicheres Wissen und damit Entscheidbarkeit darüber, was in den Katalog des positiv Wissbaren aufgenommen zu werden verdient. Woher kommt das Engagement der Wikipedia-Autoren, die nur für Gottes Lohn, nicht einmal für massenmedial verbreitete Reputation schreiben? Mit Motivforschung wird man kaum weiter kommen können, da anschließend immer noch zu fragen wäre, durch welche Strukturen diese wie auch immer verifizierbaren Motive entstehen können. So stehen nicht Motive am Anfang des Engagements, denn Motive sind erst durch Nachfrage, nicht zuerst durch Selbstauskunft der Beteilgten, erforschbar, weil erst durch Nachfrage die Selbstreflexionsergebnisse erzeugt werden, welche nichts darüber aussagen, ob die Beteiligten auch vollständig informiert wären, sei es über sich selbst, sei es über die Möglichkeiten, die sich durch das Internet bieten. Motivforschung scheint da eher nur ein Prokrastinationsverfahren zu sein, um Entscheidungsroutinen vor ihrem Zerfall zu bewahren.
Die These, die ich in diesem Weblog schon seit einiger Zeit durchprobiere, lautet ja, dass mit dem Internet eine Form der Erfahrungsorganisation gefunden wird, welche für alle Kommunikationen eine andere, eine von der Dokumentform verschiedene operative Basis bildet. Aber dabei handelt es sich um einen Forschungsprozess, um einen sozialen Lernprozess, der in der gesamtgesellschaftlichen Erarbeitung solcher Möglichkeiten besteht und dessen Ergebnisse mit keiner noch so differenzierten Argumentation vorweg genommen werden kann. Trotzdem aber dürfte man diesen Forschungsprozess empirisch begleiten und beurteilen können. Wenn auch sonst kaum etwas sicheres darüber gesagt werden kann, wenigstens zeigt sich, dass durch das Internet die Schwachstellen einer funktional-differenzierten Gesellschaft auf ihre Belastbarkeit geprüft werden. Das wird insbesondere in den nahezu hoffnunglosen Diskussionen um den Datenschutz deutlich, in der Diskussion um die Einführung eines Leistungsschutzrechts, um die Filesharer-Verfolgung und den sich nahezu täglich anhäufenden Rechtsunsicherheiten; schließlich aber auch im Erfolg von Wikipedia.
Inwiefern zeigt der Erfolg von Wikipedia ein Schwachstelle auf? Zunächst gilt für Wikipedia ebenfalls die Beobachtung ihres dämonischen Erscheinens, womit bezeichnet werden soll, dass diese Aktivitäten unvorhersehbar außerhalb etablierter Produktionsroutinen entfaltet wurden, was man an den Gegenmaßnahmen von Verlagen ablesen kann, welche sich schließlich fügen mussten. Die deutlichste Schwachstelle zeigt sich aber in den schon angeführten Löschdiskussionen, die ich als Trivialpraxis, als Parodie wissenschaftlicher Routinen beschreibe und welche damit als gesunkenes Kulturgut beobachtbar wird. In dieser Trivialität aber scheinen mir die Ausgangsbedingungen für die Formierung eines Enttrivialisierungspozesses zu liegen, der insbesondere für die Figur des Autors und Schriftstellers einen Ersatz erarbeitet, den ich aufgrund eines noch lange nicht abgeschlossenen Erfahrungsbildungsprozess als „Schreibameise“ bezeichne, eine Wortwahl, die gleichsam für eine „Simulation von Autorschaft“ steht.
Ganz aktuell ist gerade ein Posting von dem Wiki-Watch-Blog hereingekommen.
http://blog.wiki-watch.de/?p=647
Behandelt wird das Problem des Relevanzkriteriums. Der blind-spot liegt meines Erachtens in der ungeprüften Prämisse, daß das Relevanzkriterium selbst relevant ist. Die Wikipedianer suchen dafür nach einer alles entscheidenden Quelle und verstehen nicht, daß es keine Quelle geben kann, die von sich aus relevant ist. Das heißt doch, daß sie nach Methoden einer Schwarmintelligenz suchen müßten, die selbstständig Relevanz sortiert.
@wikiBeobachter – Danke. Ein schönes Beispiel, das deutlicht macht, wie sich der langsam vollziehende Ablöseprozess von einem Verbreitungsmedium zu einem Simulationsmedium gestaltet. Gemäß eines Dokumentenproduktions- und Verteilungsprozesses kommt es darauf an zu ermitteln, was in der Öffentlichkeit als bekannt voraus gesetzt ist, woraus man dann schließen kann, was als relevant veröffentlicht werden sollte. Entsprechend kann Öffentlichkeit verstanden werden als Reflexion jeder gesellschaftsinternen Systemgrenze, oder anders: als gesellschaftsinterne Umwelt der gesellschaftlichen Teilsysteme; Öffentlichkeit wäre mithin ein allgemeines gesellschaftliches Reflexionsmedium. So kommt es, dass die Öffentlichkeit als Medium einer bestimmten Typik der Selbstbeobachtung der Gesellschaft ausdifferenziert wird; und sie greift dazu ihrerseits auf ein Medium zurück, in dem sie Form gewinnen kann. Dieses Medium der Öffentlichkeit bezeichnet man gewöhnlich als „Meinung“ und schlägt sich nieder im Meinungskampf, der immer Motivation und Entmutigung zugleich bewirkt. Die öffentliche Meinung ist demzufolge das Resultat einer Art von Selbstorganisation, welche die Mikrodiversität persönlicher Meinungen zu Themen voraussetzt und überprüfbar macht, was als Meinung bestand haben sollte und was nicht. Für ein Simulationsmedium wären all diese Probleme hinfällig, weil jedes System ein Reflexionsmedium innerhalb seiner eigenen Grenzen ausbildet. Ein allgemeines gesellschaftliches Reflexionsmedium würde nicht gebraucht, weil Formbildungen innerhalb der Systeme selbstverkoppelnd zustande kommen. Allerdings wäre dazu eine größere Irritationsfähigkeit nötig, sonst würde schnell alles einschlafen. Vielleicht kann man so etwas bei Facebook schon ansatzweise beobachten? Ob sich das mit Methoden der Schwarmintelligenz vereinbaren läßt, weiß ich allerdings nicht.
@wikiBeobachter @kusanowsky Eines der größten Probleme von Wikipedia besteht ja in der Selbstreferenz. Das ist ein Problem, das in der Behandlung von Dokumenten immer im Spiel ist. Das sehe ich ein. Die Selbstreferenz sozialer Systeme entsteht durch die Parallelschaltung zweier Prozesse, die sich aufeinander beziehen und damit eine eigene Referenz herstellen, die nichts anderes mehr herstellt. Bei sozialen Systemen wird von Kontingenz bei mindestens zwei Beteiligten ausgegangen, als doppelte Kontingenz ist die Voraussetzung für eine Selbstreferenz neuen Typs gegeben. Psychische und soziale Systeme sind als eigene Einheiten beschreibbar, aber hinterlassen den Eindruck gegenseitiger Unbestimmtheit. Das macht die Differenz von Ordnung und Chaos interessant, da in dieser Fassung der doppelten Kontingenz immer Unbestimmtheit und damit Komplexität, Chaos reduziert werden muss. In Bezug auf die Herstellung von Öffentlichkeit ist das immer wieder zu beobachten. Öffentlichkeit als vorerst unbestimmte Systemreferenz wird durch Information reduziert. Z.B. bei einem unbestimmtem Ausgang der Wahlen, bei Patt-Situationen wird über den Wahlausgang informiert, jeder Bürger ist im Bilde. Schwierig wird es bei der Zuordnung von Hunderassen, weil man die Hunde nicht selbst danach befragen kann, von welcher Rasse sie sind. Die Reduktion durch Information muss wie immer intern zurück gerechnet werden. Wenn dann ein Wikipedia-Autor etwas über die Zuordnung von Hunden wissen will, muss er sich darauf verlassen, dass die Züchterverbände sich einig sind. Die Zuchtverbände müssen sich aber darauf verlassen, dass die Zoologen sich einig sind usw. Selbstreferenzielle Prozesse funktionieren zwar reibunglos, aber wenn man sie in Dokumenten beschreiben will fällt die Beobachtbarkeit der Parallelisierung weg, weil immer eine weitere Auskunftsinstanz befragt werden muss.
Daher das Insistieren auf Konsens, weil nach den Behandlungsmethoden von Dokumenten etwas anderes scheinbar gar nicht geht. Und durch Simulation gegenläufiger Prozesse könnte es gehen?
[…] 2010 tags: Demokratie, Politik von Kusanowsky Die Demokratie geht, wie alles andere auch, den Weg allen Fleisches. Die Frage ist, wie bemerkt werden kann, ob noch der Hinweg beschritten wird oder schon der Heimweg […]
[…] und zwar deshalb, weil andersherum alle Information prinzipiell als Manipulation zustande kommt. Am Beispiel Wikipedia zeigt sich das sehr deutlich. Man besteht auf Relevanzkriterien, deren Relvanz sich aus Dokumenten […]
[…] der Wissenschaft muss natürlich die Frage gestellt werden wie man mit Wikipedia umgeht, sofern das Dispositiv, durch das diese Frage relevant wird, nicht selbst zum Gegenstand der […]
[…] den Attraktor bildet, um diese variantenreich zu respezifizieren.Aber damit nicht genug. Das Wikipedia-Verfahren ist eigentlich unglaublich gut dazu geeignet, diese Problemsituation zu bemerken und zu verstehen, […]
[…] Mit dem Buchdruck und der sich daran anschließenden rasanten Enwicklung von Massenmedien entstand eine Form, die als Figur gegenwärtig ihre letzten Rückzugsgefechte voranzutreiben scheint. Gemeint ist das, was man gewohnt ist, einen Autor, Schrifsteller, Künstler zu nennen, eine Figur, deren Erfolgsleistung in der Ausbildung einer Vorstellung von Urheberschaft gleichermaßen ihren Ausgangspunkt und Voraussetzung und andersherum darin ihre Legitimation eines Führungsanspruchs fand.Dass ein Mensch Werke „aus sich selbst heraus“ erschaffen könne ist nicht nur eine juristische Formel für die Durchsetzung eines Geschäftsmodells, auch wenn sich die Diskussionen gegenwärtig darin zu erschöpfen scheinen. Tatsächlich ist mit dieser Formulierung die faustische Hoffnung auf Eigen- und Allmacht angesprochen: „aus sich selbst heraus“, was ja heißen könnte, eine beobachtungsunabhängige Beobachterpositon einzunehmen, die in der Vorstellung eines autonomen Subjekts zum Tragen kommt.Vollständig: Wikipedia: Überlegungen zur Formbildung der „Schreibameise“ […]