Das Dokument – Rückblick auf eine Form. Teil 1

von Kusanowsky

Der Bücherwurm. Carl Spitzweg, um 1850. Öl auf Leinwand. Bild: Wikipedia

Aus der Dokumentationswissenschaft ist bekannt, dass im Laufe eines Dokumentationsprozesse aus einer dokumentarischen Bezugseinheit eine Dokumentationseinheit gebildet wird. Dabei handelt es sich um einen Datensatz, der die Merkmale der dokumentarischen Bezugseinheit enthält und stellvertretend für sie in ein elektronisches Datenverarbeitungsverfahren eingespeist wird. Hätten man es beispielsweise mit einer Bücherdatenbank zu tun, dann enthielte die Dokumentationseinheit – der Datensatz – die einzelnen bibliographischen Daten, aber auch Angaben zum Inhalt, zum Beispiel in Form von Schlagworten oder einer Klassifikation. In diesem Sinne ist die dokumentarische Bezugseinheit ein virtuelles Objekt, eine Bündelung von Informationsderivaten, die als Gegenstand der dokumentarischen  Bearbeitung genommen wird. Bei den dokumentarischen Bezugseinheiten kann es sich um alle möglichen physischen Träger von abrufbaren Informationen handeln, also Druckerzeugnisse aller Art, Tonträger, Filme, Museumsobjekte und vieles mehr.
Wichtig dabei ist aber, dass eine dokumentarische Bezugseinheit nicht in jeder Hinsicht gleichzusetzen ist mit einer speziellen Dokumentenart. Sie wird stattdessen als Informationseinheit aufgefasst, die aus einer Dokumentenart abgeleitet wird. So kann z. B. ein einzelnes Kapitel aus einem Fachbuch, ein Artikel aus einer Fachzeitschrift oder auch ein Produkt aus einem Warenkatalog als dokumentarische Bezugseinheit verstanden werden.

Differenzierungen dieser Art sind keineswegs eine müßiggängerische Spielerei von wissenschaftlichen Stubenhockern. Tatsächlich handelt es sich dabei um definitorische Verfahrensweisen, die immer dann aufkommen, wenn sich die Komplexität von Systemen im Laufe eines Evolutionsprozesses nicht mehr verlässlich auf ihre Ausgangsbedingungen reduzieren lässt. Man ist dann auf die Einführung von Zwischenstufen, die den Gegenstand zergliedern, angewiesen. Damit werden Sinnzäsuren hergestellt, die eine höhere Abstraktionsleistung erfordern, die aber in der Konkretion auf mehr Fälle angewendet werden kann, als man ursprünglich behandeln musste. Das heisst, dass man mt Hilfe solcher Verfahrensweisen mehr als nur das Augangsproblem zu behandeln kann. Konkret heißt das: wenn die Frage aufkommt, was ein Dokument eigentlich ist, dann handelt es sich dabei um das Ende eines Problemerfahrungsprozesses, der gewohnte Beurteilungsweisen gleichsam über Bord werfen muss, um mit dem, was sich unwiderruflich als Lösung aufdrängt, fertig werden zu können. In diesem Fall liegt man richtig, wenn man auf die Einführung von Computern in der Verwaltung von Archiven, Bibliotheken und Warenlagern aller Art tippen möchte, weil man Dokumente nicht länger mit Schriftstücken gleichsetzen kann, wenn man in Erfahrung bringt, dass sich ein Verfahren anbietet, mit der man etwa Schriftstücke und Möbelstücke auf gleiche Weise behandeln kann.

Ein solcher Differenzierungsprozess ist der Interpretation nach aber immer ambivalent. Wenn es zwar einerseits gelingt, ein höher auflösendes Definitionsverfahren zur Herstellung entsprechender Software zu nutzen, deren Kosteneinsparungseffekte durch Generalisierung von Verarbeitungsroutinen höchst attraktiv ist, so passiert auf der anderen Seite auch eine Ausdifferenzierung von Ungenauigkeiten, die durch eine Ausweitung semantischer Horizonte entstehen. Man hat in dieser Hinsicht mit dem in der Systemtheorie bekannten Phänomen der Komplexitätsteigerung durch Komplexitätsreduzierung zu tun. Sobald man ein Verfahren gefunden hat, dass Vieles einfacher macht, findet man zugleich Vieles, das anderweitige Anschlussüberlegungen ermöglicht. Kaum ist also ein Problem gelöst, stellt man fest, dass die sich daran anschließende Ausgangssituation eine gänzlich andere geworden ist. Fängt man nämlich an, diese so erfolgreichen Datenverarbeitungsverfahren vernetzt zu prozessieren ergibt das etwas, das man so noch nicht kannte, nämlich: ein Internet. Es emergieren neue Strukturen, deren Behandlung nicht auf die Elemente zurück geführt werden können, aus denen sich diese Strukturen aufgebaut haben.

Fortsetzung

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