Der Leviathan: das Internet als Katastrophe und soziale Dämonie
von Kusanowsky
Breitenbach: Das Internet und all die Chancen, die damit zusammenhängen, der interkulturelle Austausch, die Wissensvernetzung, die Informationstransparenz, der freien Handel der demokratische Grundgedanke, den so viele Staatsführer schnell auf den Lippen haben, das alles wird derzeit massiv durch Angst und Kontrollmaßnahmen bedroht.Das muss aufhören. Und zwar jetzt.
Autopoiet: Das Internet „bedroht die gesellschaftliche Ordnung und das kulturelle Niveau“ tatsächlich – das ist aber weder „abgrundtief böse“ noch ist es uneingeschränkt gut. Das ist zunächst einmal ein Faktum. Wenn sich die Kommunikation bewegt, muss das Denken mit. Der Umkehrschluss gelte gleichermaßen. Jenseits der Binärlogik von Dämonisierung und Euphorie.
„Wenn sich die Kommunikation bewegt, muss das Denken mit“ – aber die Frage ist, ob sich die Kommunikation bewegen könnte, ohne sich zugleich von einem bewegenden Bewusstsein begleitet zu wissen (und andersherum). Tatsächlich scheinen sich Kommunikation und Bewusstsein simultan zu bewegen, ohne ihre Geschwindigkeiten allerdings koordinieren zu können. Aber auf solche Allgemeinplätze der Theorie scheint es weniger anzukommen, sondern mehr darauf, dass beide lediglich appellativ auf beobachtbare Verhältnisse reagieren. Dadurch kommt in beiden Standpunkten ein Beobachtungsverhältnis zum Ausdruck, das den Differenzen der Beobachtung nicht in der Weise gerecht werden kann, wie es den Aussagen nach angemessen erscheint. Diese Diskrepanz der „Unangemessenheit“ bezeichne ich als eine Diskrepanz, die durch ein Beobachtungszusammenhang von Verbreitungsmedien entsteht: „Gegenstand und Meinung“ können über normale Verbreitungsmedien so auseinander gezogen werden, dass „Meinung hier“ und „Gegenstand dort“ als Unterscheidungsverfahren das Medium invisibilisieren, durch das Meinung und Gegenstand in Erscheinung treten. (Das macht auch möglich, dass das Verbreitungsmedium wiederum als Gegenstand genommen wird, über das Meinung geäußert werden kann.) Möglich wird das durch Zeitverzug, aber entscheidender: normale Verbreitungsmedien lassen die Beobachtung eines „Stands der Diskussion“ zu, wenigstens, solange die entsprechende Komplexität auf bekannte und relevante Referenzen verteilt werden kann. Wenn auch schon frühzeitig im Gebrauch von Verbreitungsmedien erkannt werden konnte, dass ein vollständiger Überblick über die Diskussion nicht möglich ist, so konnte immerhin noch „Vollständigkeit“ als unvollständig einschränkend behandelt werden; und damit als ergänzungsbedürftig, als irrtumsträchtig, als differenzierungsfähig. In jedem Fall aber war die Unterscheidung von Meinung und Gegenstand deshalb hartnäckig durchsetzungsfähig, weil sie sie in jedem Verbreitungskontext als haltbar erschien, etwa durch das Interaktionsgeschehen auf Tagungen genauso wie in Vorträgen, Anhörungen, Meetings, Parlamenten und Diskussionen unter Anwesenden aller Art, deren Ergebnisse dann dokumentiert und über Druckverfahren woanders auf andere Weise verbreitbar waren.
Für eine Übergangszeit lässt das Internet die Beibehaltung einer Unterscheidung von Meinung und Gegenstand zu, indem etwa die Frage, was vom Internet zu halten sei, nicht nur über das Internet allein diskutiert werden kann. Das Interessante ist aber doch, dass das Internet diese verschiedenen Verbreitungskontexte hybridisiert: Schrift- und Bilddokumente werden über Monitore allein oder in Versammlungen gleichzeitig simulierbar; das Internet lässt Interkationen zwischen Beobachtern zu, die sich über den Unterschied von Ab- und Anwesenheit irritieren können, ohne sich auf die Eindeutigkeit von An- und Abwesenheit verlassen zu müssen. (Siehe dazu: „Interaktion als Kommunikation zwischen absentierenden Beobachtern„). Insbesondere dann, wenn man über das „real-time-internet“ nachdenkt, wird man feststellen, dass die Unterscheidungsroutine zwischen Meinung und Gegenstand keine Relevanz mehr besitzt, weil sich alle Reproduktionsstrukturen auf die Erwartung ihrer Gleichzeitigkeit anpassen. Über den Unterschied von Gegenstand und Meinung kann dann zwar immer noch geredet werden, aber dann differenzieren sich Beobachtungsroutinen heraus, die ihre Gleichzeitigkeit nicht nur deskriptiv mitthematisieren, sondern performativ auf Gleichzeitigkeit reagieren.
Letztlich heißt das auch, dass das Internet nicht einfach nur ein Verbeitungsmedium ist, das Dokumente zu Zwecken der Urteils- und Meinungsbildung massenhaft im Raum verteilt, was in erster Linie daran liegt, dass das Internet den Raum, über den es sich erstreckt durch seine Verfahrensweise selbst simuliert (oder, wie man verlegenheitsmäßig sagen würde: virtualisiert.) Verkürzt formuliert: Das Internet ist kein Gegenstand, über das man eine Meinung haben kann. Natürlich kann man es dabei belassen, lediglich Meinung zu äußern und die räumliche Verbreitung von Meinung zu simulieren. Aber kann man damit verstehen, worauf man sich einlässt, wenn man glaubt, man würde sich auf nichts anderes als auf ein Verbreitungsmedium einlassen? Dass das Internet dämonisch über die Gesellschaft herzieht kann man schon beoachten. In welcher Weise aber die damit zusammenhängende Emprieform einer funktional differenzierten Gesellschaft katastrophal auseinanderbricht, weil der Zerrüttungsprozess seit der Industrialisierung durch das Internet auf einen Kulminationspunkt getrieben wird, kann deshalb nur schwer verstehbar – was auch heißt: empirisch gemacht werden, weil die verbindlichkeitsstiftenden Instiutionen nicht einfach ihre Verfahrens- und Unterscheidungsroutinen ändern können.
Deshalb bleibt wohl nichts anderes übrig als zu fordern: „Das muss aufhören. Und zwar jetzt“ – aber das geschieht nicht, weil mit Forderungen dieser Art das Unterscheidungsverfahren nur wiederholt wird, welches solche Forderungen möglich macht, indem eine Meinung darüber geäußert wird, wie sich der Gegestand zu verhalten habe, damit eine solche Forderung ihre Relevanz verliert.
Siehe dazu auch:
Die Katastrophe der Empirieform
Dass beide Artikel »lediglich auf Chancen und Risiken des Internets verweisen« halte ich für eine gewagte Beobachtung. Worauf die Diagnose der »appelativen Reaktion« rekurrieren mag, ist mir auch nicht klar. Nur so viel: Dass es nicht um »Meinungen« gehen kann, versteht sich von selbst. Dass Gemeintes immer offen für Interpretation bleibt auch. Hier wurde jedenfalls offenkundig auf Basis eines Beobachtungsschemas interpretiert, dass sich selbst aus dem Beobachteten hinauszucopieren trachtet – verstehe ich das richtig?
Dass es gerade nicht um »nichts anderes als […] ein Verbreitungsmedium« geht, ist doch der Kern: Das Verhältnis zu Selbst und Welt steht zur Disposition. Tradierte Semantiken, Normierungen, Epistemologien. Die »verbindlichkeitsstiftenden Instiutionen [sic!]« würde ich dafür recht weit unten ansiedeln: Wenn diese »nicht einfach ihre Verfahrens- und Unterscheidungsroutinen ändern können« werden wir sie musealisieren, auf kurz oder lang. Ob man das dann als »dämonisch« oder »katastrophal« bezeichnet, ist mir letztendlich egal (bzw. eine Stil- und Referenzfrage); aber gerade der Umstand, dass wir uns alle so schwer damit tun, diesen Sachverhalt zu kommunzieren, würde ich als eine Form seichter Empirie gelten lassen: »Das muss aufhören. Und zwar jetzt« ist jedenfalls unter humoristischen Gesichtspunkten eine erstklassige Forderung.
Vielen Dank für den Kommentar und einen schönen Sonntag einstweilen.
Sebastian
Post scriptum: Auch das »neue« Medium lässt m.E. theoretisch die Beobachtung eines »Stands der Diskussion« zu, zumindest ebenso theoretisch wie ein konventionell gedrucktes Literaturverzeichnis. Es mangelt möglicherweise an einer adäquaten #Form, um die zahlreichen Spuren im www zu aggregieren (Hashtags, Schlagworte, Timestamps). Technisch dürfte das simpel sein, aber das sind zwei völlig andere Diskussionen.
„Hier wurde jedenfalls offenkundig auf Basis eines Beobachtungsschemas interpretiert, dass sich selbst aus dem Beobachteten hinauszucopieren trachtet – verstehe ich das richtig?“
Ja, insofern wir uns über die Kontingenz des Beobachteten nicht weiter irritieren wollten. Wollten wir das aber dennoch, („Die Frage nach dem Leviathan ‚der als Metapher in Anspielung auf die Schrift Thomas Hobbes’ schlicht und einfach falsch verwendet worden ist…'“) müsste man darauf hinweisen, dass Argumente, die richtige und falsche Verwendungsweisen von Metaphern beobachtbar machen, nicht angeben können, durch welches Beobachungsschema Metaphern (oder sonst Auffassungen irgendwelcher Art) als richtig oder falsch in Erscheinung treten. Kann man aber ein entsprechendes Beobachungsschema angeben, wird eine solche Operation selbstreferenziell undurchsichtig. Also: richtig/falsch kann beurteilt werden, wenn man ein dokumentarisches Beobachtungsschema verwendet. Das selbe gilt auch dann noch, wenn durch Abweichungen lediglich die Kontingenz einer solchen Unterscheidung differenziert wird: fast richtig/beinahe zutreffend/etwas falsch usw. Das gilt dann auch für Meinungen, Interpretationen, Formulierungen aller Art. Und solange man in einem Wechselspiel von „für und wider“ meint, allein darauf käme es an, allein dabei könne man es belassen, versteht man nicht, was sich im Marxschen Sinne einer politischen Ökonomie hinter dem Rücken der Beteiligten dämonisch durchsetzen will.
„gerade der Umstand, dass wir uns alle so schwer damit tun, diesen Sachverhalt zu kommunzieren, würde ich als eine Form seichter Empirie gelten lassen.“ Gewiss. Hier setzt sich die Empirie selbst kontingent, weil: zwar ist es unmöglich, die Zukunft vorherzusagen, aber auch nicht unmöglich zu wissen, wie es weiter gehen könnte.
„Das Verhältnis zu Selbst und Welt steht zur Disposition.“ – genau daran würde ich dann Zweifel äußern, weil es so – also kritisch auf Weltveränderung reagierend, Weltveränderung als Herausforderung oder Zumutung auffassend, Weltverstehen als faustische Aufgabe begreifend – wohl nicht mehr weiter geht wegen der allfälligen Trivialität einer faustischen Subjektivität. Denn auch ein Verhältnis von Selbst und Welt – wie auch immer man es auffassen wollte – wird sich performativ Musealisieren lassen müssen; es wird seine Patina mit in eine Simulation einbringen und darin dann weiter bestehen und sich bewähren können.
»Allein unsere bisherige Vorstellung von der Wissenschaft hat eine Beherrschung absolut gemacht, die sonst relativ geblieben wäre.« – Bruno Latour
Der Leviathan, beziehungsweise seine Metapher, schiebt sich laufend vorweg: Wenn man Medienarchäologie betreibt, also das Referenzsystem umfassend ausflaggt, kann man die (mutmaßlich) richtige oder falsche Verwendungsweise von Vergleichen plausibilisieren – das macht die Sache nicht undurchsichtig, aber zeitaufwendig. Man kann auch schlicht und einfach merken, dass man von Unterschiedlichem spricht und die Unterscheidung löschen. Das aber nur am Rande.
Ich spule etwas zurück: »Denn die Strukturen vernetzter Computer erzeugen eine Unbestimmtheitsstelle, an der etwas geschieht, wovon man noch nicht weiß, wie es weiter gehen wird«, schreibst du im oben referenzierten Beitrag »Die Katastrophe der Empirieform 1«. Dieser Umstand ist sicher nicht zu leugnen, seine Erkenntnis ist ebenso gewiß nicht sonderlich neu: das, was wir als »komplizierte Datenmengen« deklarieren ist vor allem in historischer Betrachtung eine hochgradig kontingente Angelegenheit. Für den federbekielten Mönch im mittelalterlichen Scriptorium würde es sich bei den laufenden Metern von Literaturbestand in einer durchschnittlichen Universitätsbibliothek wohl sehr wahrscheinlich um eine ebenso »komplizierte Datenmenge« gehandelt haben wie für den rezent-ratlosen wissenschaftlichen Betrachter des Internets. Die Parallelisierung von Medienrevolutionen führt dann m.E. zu dem Schluß, dass folgendes Zitat auch für Bücher gelten muss: Sie »[…] rechnen sie mit, das heißt, als unverzichtbare Umweltbedingung verändern sie die Resultate der Kommunikation auf eine Art und Weise, die in der Kommunikation von der Kommunikation weiterverwendet werden müssen.« Die Frage läuft also auf den vielfach prognostizierten Austausch des Beobachtungsschemas hinaus, egal ob wir das Aufziehen der ersten Wolken nun als Katastrophe oder Dämonologie bezeichnen… (den von dir diagnostizierten »appellativen« Charakter meiner Breitenbach-Replik konnte ich übrigens immer noch nicht identifizieren).
Was bedeutet das für die Empirie?
Die Erfindung der (hier: empirischen) Wissenschaft, bekanntermaßen Resultat dieser letzten, großen Katastrophe, basiert auf einem Gentlemen’s Agreement, das doxa, bislang als bloße »Meinung« verspottet, als Dispositiv von prinzipiell gleichrangigen Gewährsleuten gesellschaftsfähig macht – und somit Fakten schafft (vgl. die Rekonstruktion des bereits oben Zitierten am Beispiel von Robert Boyles berühmter Luftpumpe). Ob ein solches Beobachtungsschema oder ein Medium wie Wahrheit durch das Auftreten des Computers in die Mottenkiste gehören oder nicht doch in neue Formen inkorporiert werden wird (wie bei allen vorangegangenen Medienrevolutionen auch), sei dahingestellt. »Disposition« ist nicht wertend, soviel ist Fakt. Das wollte ich übrigens auch Herrn Breitenbach mitteilen. »[A]uch ein Verhältnis von Selbst und Welt – wie auch immer man es auffassen wollte – wird sich performativ Musealisieren lassen müssen.« Transzendentes Ideenschauen oder Deduktion von Gott sind ja auch nicht mehr en vogue… Als eine »Zumutung« würde ich das übrigens nur in jenem Maße bezeichnen wollen, in dem auch jeder kommunikative Akt als Zumutung per se begriffen werden kann. Ansonsten ist das genau mein Punkt, ja. Schön gesagt.
Obligates Postscriptum: Wir sollten bei all den Überlegungen nicht vergessen, dass mit dem Rekurs auf Wahrheit (bzw. Überprüfbarkeit) nur ein extrem begrenzter und idiosynkratischer Auschnitt alltäglicher Kommunikation Gegenstand der Beobachtung ist: nämlich Wissenschaft (bzw. und unter besonderen Umständen: Journalismus). Und am lautesten soll man ja immer über sich selbst lachen können.
„Wir sollten bei all den Überlegungen nicht vergessen, dass mit dem Rekurs auf Wahrheit (bzw. Überprüfbarkeit) nur ein extrem begrenzter und idiosynkratischer Auschnitt alltäglicher Kommunikation Gegenstand der Beobachtung ist: nämlich Wissenschaft (bzw. und unter besonderen Umständen: Journalismus).“ – Oh, ich glaube, da irrst du dich. Schauen wir etwas genauer hin, werden wir feststellen, dass das, was Überprüfbarkeit (und damit auch Wahrheit) ermöglicht, nämlich das Dokumentschema, die Empirieform aller Funktionssysteme ist, die allerdings auf ihre funktionssspezifische Art damit umgehen. Der Plagiatsvorwurf bei Literaten, die Lüge vor Gericht oder im Wahlkampf, die Fälschung von Bildern in der Kunst, ja, das Abbschreiben vom Banknachbarn in jeder Zwergenschule, der Aprilscherz, Streiche mit versteckter Kamera, der Heiratsschwindler: all das zeigt, welche Probleme eine Gesellschaft mit sich selbst bekommt, wenn sie Manipulation zum Problem erhebt. Der entscheidende Punkt ist, dass wird Modernen gelernt haben mit der Wahrheit eine Art von Zivilzynismus zu pflegen: wir glauben nicht daran, aber müssen gegebenenfalls darauf bestehen. Insofern ist die Beobachtung unseres Roten Bruders gar nicht so verkehrt, der ständig merkte, dass das Bleichgesicht mit gespaltener Zunge redete. Und wir müssten hinzufügen, dass unser Weißer Bruder – anders als die Rothaut – leider keinen Gott mehr hatte, auf dessen Willen er diese Widersprüche zurechnen konnte.
„Als eine »Zumutung« würde ich das übrigens nur in jenem Maße bezeichnen wollen, in dem auch jeder kommunikative Akt als Zumutung per se begriffen werden kann.“
Und auch hier könnte man bei Beobachtung eines Beobachters skeptisch werden und fragen: ja, selbst noch jede Schmeichelei, jede neugierige Frage, jede Liebeserklärung – nichts als Zumutung? Und wenn man das akzeptieren wollte, wird die Frage immer anstrengender, wie solche Zumutungen enstehen könnten, wenn wir nicht annehmen wollten, dass diese Frage selbst schon eine Zumutung ist. Die Zumutung scheint daher das Ergebnis der Ausweglosigkeit eines Beobachtungsschemas, dass trotz aller Kontingenz mit nicht müde werdender Borniertheit die Frage wiederholen kann: Wie meinst du das? Hab ich das richtig verstanden? Liebst du mich wirklich? Als ob man’s denn sagen könnte.
„den von dir diagnostizierten »appellativen« Charakter meiner Breitenbach-Replik konnte ich übrigens immer noch nicht identifizieren“
Ich meine damit folgendes: “ schlicht und einfach falsch verwendet worden…“ – „Neben dieser ersten, recht schlichten Einsicht in die Unnachvollziehbarkeit…“ – „Das Internet ist schlicht und einfach noch nicht erwachsen…“ – Appellativ wird durch Plausibilitätsverstärkung (redundante Wiederholung von „schlicht und einfach“), die keinerlei Plausbilität erklärt, die Akzeptanz von „Meinung“ empfohlen.
Nur kurz, weil in Eile:
(1) Deinen ersten Punkt summiere ich als »Kontingenz«. Wenn du das Empirieform nennen möchtest, okay. Die Hauptsache ist doch, das verhandelt wird; ganze Funktionssysteme (oder solche, die es einmal werden wollen) basieren auf dieser Entfaltung von Widersprüchen, Zweifeln, Kontingenzen, Widersprüchen, Paradoxien in der zeit.
(2) All das: nichts als (kommunikative) Zumutung, ja. Denn man muss reagieren.
(3) Das mit dem Leviathan war, wie du mittlerweile weisst, meine Interpretation. Weil ich das Bild fälschlich einer wissenschaftshistorischen Verwendung zurechnete. Die beiden folgenden Verwendungen implizieren keineswegs die Anempfehlung von »Meinung« (aber interessante Lesart!) – sondern relativieren das bis dahin Geschriebene, so war ihre Verwendung jedenfalls gemeint. »Schlicht und einfach« im Sinne von »kurz gesagt«… Es geht, gewissermaßen, eher um Bescheidenheit.
(4) Dieser Appell soll keiner sein!
„ganze Funktionssysteme (oder solche, die es einmal werden wollen) basieren auf dieser Entfaltung von Widersprüchen, Zweifeln, Kontingenzen, Widersprüchen, Paradoxien in der zeit.“ – Na gut. Unter welchen Bedingungen ist denn so eine Sytemtheorie möglich? Wenn wir nicht annehmen wollen, sie käme irgendwie unzeitgemäß zu früh, zu spät oder so. Meine Überlegung lautet: die Luhmannsche Systemtheorie ist die erste Soziologie, die zwar noch in Büchern aufgrund eines Mangels an Alternativen dokumentiert wurde, ohne aber, dass diese Theorie auf ihre Dokumentierbarkeit angewiesen wäre. Irgendwie steht sie zwar irgendwo geschrieben, aber man kann nicht einfach mal nachlesen um genau wissen zu können, was Luhmann gemeint hat.
Will man die Systemtheorie akzeptieren, kann man die Dokumentform nicht mehr akzeptieren. Und damit auch nicht mehr all die Urteilsbildungsroutinen, die durch die Erfahrung im Umgang mit der Dokumentform entstanden ist, nämlich: Kausalität, Identität, Sequenzialität, Linearität – als alleinige Differenzen des Weltverstehens.
„Es geht darum, verstehbar zu machen, dass eine funktional-differenzierte Gesellschaft eine für sie typische Form der Empirie hervorbringt…“
»Unter welchen Bedingungen ist denn so eine Sytemtheorie möglich? Wenn wir nicht annehmen wollen, sie käme irgendwie unzeitgemäß zu früh, zu spät oder so.«
Manchmal denke ich so etwas wirklich: zu früh, zu spät. Gerade wenn die Theoriearbeit auf die Person Luhmanns zugerechnet wird. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, und ohne happy end. Zurück zu den Sachen! Kennst du das GLU von Baraldi/Corsi/Esposito? Okay, ganz gewiss kennst du das, unterstelle ich jetzt einfach mal. In gewisser Weise legt die Form dieses kleinen Bandes die Architektur der Luhmann’schen Systemtheorie offen, re-konstruiert sie. Nun behauptest du allerdings:
»Will man die Systemtheorie akzeptieren, kann man die Dokumentform nicht mehr akzeptieren.«
Das finde ich gewagt (sogar: appellativ?), aber spannend. Gibt es sowas wie »alleinige Differenzen«? Setzt die von dir so bezeichnete »Dokumentform« all diese Medien (»Kausalität, Identität, Sequenzialität, Linearität«) wirklich voraus? Wie steht es um Hypertext? Nebenbei bemerkt: Suhrkamp gibt dieser Tage eine neue Auflage von Arno Schmidts »Zettels Traum« heraus, gerade heute morgen gehört (http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1287732/) – ohne ein Mindestmaß von Erwartbarkeit erwarte ich jedenfalls weder Literatur noch (System-) Theorie. Möglicherweise Zen, aber auch das ist eine andere Spur. Konkret bedeutet das für ein potentielles Verstehen: Du müsstet mir gegenenfalls noch einmal kurz deine Definition von »Dokument« dokumentieren – vielleicht in der Form einer Form? Bislang vermute ich ja, dass es dir insbesondere um Fragen der Referenzierbarkeit geht, vgl. dazu die folgende Skizze: http://twitpic.com/2ulqbl
„Gibt es sowas wie »alleinige Differenzen«?“ Eben das ist der blinde Fleck der Systeme. Nehmen wir mal als Beispiel die Hirnforschung von Gerhard Roth. In dieser Art der Forschung wird behauptet, es gäbe eine vollständige kausale Determinierung der Welt, was konsequenterweise heißt: alles muss auf Ursachen reduzierbar sein. Geh doch mal die Tagespresse durch: Loveparade, Kachelmann, Polizeigewalt in Stuttgart – es muss Ursachen und jeweils eine geben. Auch da, wo Mehrursachenannahmen möglich sind, muss eine Identität eines bezeichenbaren Gegenstandes unterstellt werden wie zum Beispiel: „ein Wille“, „eine Tat“, „eine Handlung“, „eine Person“, „ein Ort“ usw. Wenn wir nicht einfach behaupten können, die Systeme seien über sich selbst in ihrem Beharren auf Kausalität, Identität, Sequenzialität und Linerarität angeht im Irrtum, dann muss man fragen können: wie kommt ein Hirnforscher darauf, dass ein kausal determinierter Wille einer Handlung voraus geht? Es reicht nicht, diesem Hirnforscher Irrtum nachzuweisen. Es reicht auch nicht, ihm die Luhmann-Lektüre zu empfehlen. Es käme stattdessen darauf an, nach einer spezifischen Form der Empirie zu fragen. Und ich vermute, dass diese spezifische Form der Empirie wie sie unter Wissenschaftlern Verbreitung findet, nicht verschieden ist von jener, die unter Politikern, Technikern, Pfarrern und Biertischrechthabern verbreitet ist, wenn sie auch jeweils verschieden ausdifferenziert in Erscheinung tritt.
„Wie steht es um Hypertext?“ – Gute Frage. An dieser Stelle merkt man eben, was durch das Internet entsteht, nämlich: Performate statt Dokumente. Wenn du Zeit und interesse hast, dann geh doch mal diese Blogartikel von mir durch:
https://differentia.wordpress.com/?s=Performate+Dokumente
https://differentia.wordpress.com/?s=simulation
„vielleicht in der Form einer Form?“ Ja. hier: https://differentia.wordpress.com/?s=manipulation
„Bislang vermute ich ja, dass es dir insbesondere um Fragen der Referenzierbarkeit geht“ – darum geht es auch ,abe nicht im engeren Sinne.
»Und ich vermute, dass diese spezifische Form der Empirie wie sie unter Wissenschaftlern Verbreitung findet, nicht verschieden ist von jener, die unter Politikern, Technikern, Pfarrern und Biertischrechthabern verbreitet ist, wenn sie auch jeweils verschieden ausdifferenziert in Erscheinung tritt.«
Ja, vermutlich. Aber was dann? Metaphysik? Schichtengesetze? Kausalnexus (mit langem »u«)? Hartmann’sche Kategorienfehler? Oder wie Luhmann empfahl: Medium/Form statt Teleologie?
Natürlich wird alltäglich im Medium der Kausalität operiert, querbeet und handlungstheoretisch verbrämt – und? Dass die Verknüpfungen Leistungen eines Beobachters sind, ist klar. Dass sie Komplexität reduzieren auch. Ob man dazu auf Gerhard Roth zurückkommen muss? Vermutlich nicht. Dass seine exklusive und idiosynkratische Wahl des Körpers (bzw. des Gehirns) alle anderen möglichen Systemreferenzen invisibilisiert, ist nicht mein Problem. Ich habe derzeit keinen gesteigerten Bedarf an einem Dialog mit den Neurowissenschaften (Dirk Baecker erwähnte im Rahmen seines letzten Vortrags in Hamburg allerdings, dass er an einem solchen Programm arbeite…). Gewiss haben wir es alltäglich mit einem Übermaß an Komplexität zu tun; warnen wir vor dem Trugschluß, sie der Welt zuzurechnen! Der Imperativ lautet: Deklariere die Beobachterposition!
»Wenn du Zeit und interesse hast, dann geh doch mal diese Blogartikel von mir durch«
Mit Verlaub: Wie ein Suchfeld funktioniert, ist mir bekannt. Ich habe tatsächlich großes Interesse – aber keine Zeit, mich durch sämtliche von dir referenzierte (!) Artikel zu lesen. Ich hoffte, du könntest das, worum es dir »im engeren Sinne« geht, zuspitzen. Darum fragte ich auch nach einer Kondensierung in Form der Form. Eine knackige Unterscheidung von Performat und Dokument wäre für’s erste auch hilfreich…
„Ich habe tatsächlich großes Interesse – aber keine Zeit, mich durch sämtliche von dir referenzierte (!) Artikel zu lesen.“ – Dann bitte lass es.
„Eine knackige Unterscheidung von Performat und Dokument wäre für’s erste auch hilfreich…“ Eine Antwort könnte hier zu finden sein
https://differentia.wordpress.com/2010/07/17/performate-ausblick-auf-eine-form-2/
leider interessiert es dich zwar, aber da du keine Zeit hast, dich dafür auch noch zu interessieren, werde ich mich anschließend fragen, wie es nur möglich werden kann, in so eine Zwickmühle zu geraten.
»Dann bitte lass es« & »leider interessiert es dich zwar, aber da du keine Zeit hast, dich dafür auch noch zu interessieren«
Keine Sorge, ich lass‘ es. Gleichwohl: Du musst ja nicht beleidigt sein, weil du nach einer Zusammenfassung des bisher Gesagten und Geschriebenen gefragt wirst. Parisitäre Kommunikation über die Ablehnung interessiert mich gar nicht; eine präzise Zuspitzung deiner Erörterungen zur Dokumentform hätte mir hingegen geholfen, am Ball zu bleiben. Die Autoren, die ich schätze, sind solcher Anstrengungen zugunsten des (unterstellten) Lesers nie müde geworden – einer der Gründe, warum ich Luhmann so schätze. Aber sei’s drum, du kannst, willst oder tust es nicht. Auch gut.
„Du musst ja nicht beleidigt sein, weil du nach einer Zusammenfassung des bisher Gesagten und Geschriebenen gefragt wirst.“ Es käme darauf, bei einer Antwort auf eine Frage die Frage nicht als unbeantwortet zu wiederholen:
A:“Sie wünschen?“
B: „Ein Brötchen bitte.“
A:“Normales, Sechkorn, Laugen, Quark?“
B: „Ich habe keine Zeit mir das ganze Brötchensortiment anzugucken. Wie wärs mit einer einfachen und präzisen Antwort?“
… (Zeit vergeht)…
A: „Sie wünschen bitte?“
usw.
Der Vergleich hinkt, denn die Frage bzw. Bitte war klar: Eine präzise Definition der Dokumentform.
Wenn du nicht darüber schreiben möchtest – bitteschön.
Für alles weitere könnte hier eine Antwort zu finden sein:
https://differentia.wordpress.com/2010/10/03/der-leviathan-das-internet-als-katastrophe-und-soziale-damonie/#comment-477
„Eine präzise Definition der Dokumentform“ Das Dokument entsteht als Form durch die Unterscheidung von dokumentierbar/nicht-dokumentierbar (alternativ: referenzierbar/nicht-referenzierbar), eine Form, die Wahrheit kontingent berücksichtigt, wodurch Manipulation ausschlossen wird und als Problem durch Ausschluss wieder auftaucht.
Wenn du das für präzise hälst nehm ich dich nicht mehr ernst. Und jeder andere Satz ist es auch nicht präziser: „Sie wünschen?“ – „Ein Brötchen bitte…“ usw.
Nicht präzise, aber verhandelbarer.
Pardon: Anschlussfähiger. Kundenfreundlicher.
Danke sehr!
P.S.: Mohn.
Das ist also der Unterschied
zwischen Emotion und Ratio.
Zwischen Bilder und Sprache.
Zwischen Kopf und Herz.
Zwischen Denken und Machen.
Zwei Welten, die im Grunde auf ihre unterschiedlichste Art und Weise die gleiche Geschichte erzählen möchten.
Spannend. Und doch verweile ich mit Amüsement irgendwo dazwischen. 🙂
(wollte nicht stören, nur mal kurz „hallo“ sagen)
Nachtrag:
Ein spielerischer Versuch, sich der Unterscheidung von Dokument und Performat noch einmal zu nähern: http://tumblr.com/x0tkn03ub – plausibel für dich?
„Nicht präzise…“
Deshalb müssten sich einige Ausführungen deinerseits anschließen über die Frage der allgemeingültigen Erwartbarkeit präziser Formulierungen in konventionellen Mehrkontexktumgebungen. Denn, dann ist ja wohl klar, wer überhaupt spricht oder schreibt, sollte sich präzise ausdrücken. Das ist eine auf den ersten Blick einleuchtende Forderung. Denn wozu äußert er sich, wenn er nicht präzise verstanden werden will? Soziologie ist nun aber nicht die Lehre unverständlicher Texte, sondern die Lehre vom präzisen Blick. Und dann kommen Fragen und Bedenken hoch. Sollte man alles, was gesagt wird, gleichermaßen unter die Knute der Päzision zwingen? Soll Päzision bedeuten: Päzision für jedermann? Päzision ohne Mühe? Präzision ohne jede Vorbereitung, ohne jeden Zeitaufwand des Nachdenkens und Entschlüsselns? … Vgl. http://bit.ly/aghkrG
„Will man die Systemtheorie akzeptieren, kann man die Dokumentform nicht mehr akzeptieren. Und damit auch nicht mehr all die Urteilsbildungsroutinen, die durch die Erfahrung im Umgang mit der Dokumentform entstanden sind, nämlich: Kausalität, Identität, Sequenzialität, Linearität – als alleinige Differenzen des Weltverstehens.“
Keine Ahnung oder Kusanowsky das irgendwo schon mal so pointiert gesagt hat, aber ich schätze das ist sehr auf den Punkt und hat wirklich utopisches 😉 Potential. Sehe nur über Parallelität und Abstraktion den Ausweg.
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