Das Plagiat – ein akademisches Kulturgut. Ein Plädoyer für mehr akademische Lernbereitschaft

von Kusanowsky

Wer sich ein eigenes Bild vom Ausmaß der Praxis des Plagiierens im Wissenschaftsbetrieb machen möchte hat nicht sehr viel zu tun. Man entnehme dem Präsenzbestand einer Fachbibliothek stichprobenartig drei oder vier Bücher, seien dies Dissertationen, Habilitationsschriften oder Aufsätze in Sammelbänden oder Zeitschriften und überprüfe genauso stichprobenartig die jeweils angegeben Fußnotenhinweise, indem man die Stellen mit den zitierten Schriften vergleicht, sofern diese in der Fachbibliothek ebenfalls zum Präsenzbestand gehören und verfolge von diesen Schriften wiederum die nächsten Fußnotenhinweise zurück. Wichtig ist dabei immer auf den Kontext von Zitaten zu achten. Auf diese Weise findet man nicht nur heraus, was zitiert, sondern auch, was nicht zitiert wurde. Nach vielleicht zwei Vormittagen kann man die Arbeit als erledigt betrachten, denn das Ergebnis der Stichprobe gibt ja Auskunft über die Wahrscheinlichkeit, mit der man auch in anderen Schriften Plagiate finden wird. Einen Sensationsfund macht, wer keine Plagiate findet.

Man könnte diesen Befund zum Anlass für die Frage nehmen, was den eigentlich ein Plagiat sei, was bedeutet, dass man sich auf differenzierte Spekulationen darüber einlassen muss, wer in dieser Frage Recht hat. Und wer nicht glauben will, wie vergeblich diese Diskussion ist, muss die Beobachtung ignorieren, dass der Versuch, Plagiate aufzudecken immer auch weitere Plagiate nach sich zieht.
All diesen Diskussionen geht die Vermutung voraus, dass man immer schon wisse, was ein Plagiat sei, weshalb es nicht wundert, wenn man erstens eine ganze Menge findet und zweitens die eigene Einschätzung um für und wider immer ganz leicht und trefflich begründen kann; zuzüglich aller widersteitenden Einschätzungen kommt man schließlich doch auf das Ergebnis zurück, dass Plagiate normal und wahrscheinlich sind.

Eine Wissenschaft, die gewohnt ist, sich ob ihrer Würde zu irritieren – eine Würde von welcher niemand weiß woher sie kommen sollte, wenn man denn nicht annehmen wollte, dass sie nur eine Eigenillusion der Wissenschaft selber ist – muss diesen empirischen Normalfall mit normativer Arroganz zurückweisen. Das Plagiieren dürfe nicht sein, die Wissenschaft sei zur Ehrlichkeit verpflichtet. Wenn aber Aufrichtigkeit und Authentizität das Kapital der Wissenschaft wäre, dann könnte sie gar nicht funktionieren. Denn wer ist aufrichtig? Je dringlicher sich der Imperativ der Aufrichtigkeit durchsetzen will, umso größer wird der Zweifel daran. Denn die Dringlichkeit verweist ja auf die andere Seite der verwendeten Unterscheidung, wodurch bemerkbar wird, wie normal das Schummeln ist. Und wer will angesichts der abzutragenden Intransparenz glaubhaft machen wollen, dass durch PlagWikis damit endlich Schluss gemacht werden könnte, ist über die Kompetenz der Plagiatsjäger auch noch nicht vollständig informiert.

Alles in allem ist man zur Nüchternheit verpflichtet: Der Normalfall des Plagiierens wird weiterhin genauso beobachtet und skandalisiert werden wie das Verbot. Der Wissenschaft ist in dieser Hinsicht zur Lernunfähigkeit verurteilt. Aller sonstigen notwendigen Lernbereitschaft bleibt vorerst ein nicht zu berücksichtigendes Verbotsschild vor die Nase gehalten, das lauten könnte: Du darfst nicht lernen, dass Plagiieren ein geeignetes Mittel ist, um den Forschungsprozess zu verbessern.
Möglicherweise haben darüber in der Wissenschaft bislang nur sehr wenige nachgedacht.
Eingangs wurde erwähnt, dass die Frage, was ein Plagiat ist, keineswegs so eindeutig ist, wie die Diskutierenden unterstellen möchten. Die Beobachtung der Uneindeutigkeit ergibt sich aus der Diskussion um das Für und Wider. Empirisch hat man es mit Kontingenz zu tun. Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn man einmal genauer darauf achtet wie etwa im VroniPlag Original und Plagiat gegenüber gestellt werden. Im Gesamtzusammenhang eines Plagiats-Textes dürfte, wenn dieser wiederum selbst zum Plagiat freigegeben wäre, kaum etwas von dem übrig bleiben, was ursprünglich intendiert war, wenn man zusätzlich die Möglichkeit in Erwägung zieht, dass eine Stelle nicht nur von einem Schreiber übernommen würde, sondern vielleicht von mehreren, die ebenfalls Variierungen durch Abschreiben vornehmen, welche anschließend durch weitere Übernahmen variiert würden. So verwandelt sich alles im Laufe eines Produktionsprozesses von Texten, was schon allein schon durch Kontextverschiebung geschieht, damit Unterschiede überhaupt bemerkt werden können.

Erst in dem Augenblick, indem man das Plagiieren frei gibt, werden die Unterschiede auffällig und damit auch die Frage ihrer Relevanz; eine Frage, die gegenwärtig stiefmütterlich behandelt werden muss, weil die Kontingenz des Plagiats stärker skandaliert wird als seine Bedeutsamkeit. Denn beachte: auch die Bedeutsamkeit könnte sich als kontingent heraus stellen, und was könnte ein Wissenschaft besseres erbringen als Forschungsergebnisse, deren Bedeutsamkeit durch Einschränkung von Kontingenz entsteht? Da aber gegenwärtig über die Bedeutsamkeit des Wissens gar nichts mehr ermittelbar ist, konzentriert sich die Diskussion auf die Bedeutsamkeit der Karrieren.
So käme man auf die Überlegung, dass durch Ausnützung einer Schwarmintelligenz des Plagiierens sehr viel bessere Möglichkeiten für die Forschung zustande kämen als durch das Beharren auf eine „faustische Gelehrsamkeit“, die an einem Geniebegriff festhalten will, der durch seine Trivialisierung in der Massenuniversität schon lange keine Überzeugungskraft mehr hat.

Aber die Wissenschaft ist auf solche Überlegungen nicht vorbereitet und kann sich an den zu erforschenden Möglichkeiten einer Schwarmintelligenz nicht ausrichten, da sie kein transparentes Qualifiaktions- und Bewertungssystem entwickeln kann, durch das Karrieren legitimiert werden könnten. Denn die Tatsache, dass nicht Bedeutsamkeit der Schriften skandalisiert wird, sondern die Karrieren, die mit angeblich unlauteren Mitteln durchgesetzt wurden, verweist darauf, dass für die Beurteilung einer Bedeutsamkeit keine Kriterien mehr vorhanden sind, weil alle Kriterien in der Intransparenz eines Wissenschaftsbetriebes zerfallen, der maßgeblich durch ein Wissenschaftsbeamtentum getragen wird. Es sind in allen Fällen Beamte, die darüber entscheiden, wer Beamter werden kann und die dafür auskunftsfähigen Beurteilungsmaßstäbe verhalten sich zu ihrer Transparenz wie die Aufrichtigkeit des Wissenschaftlers zu ihrer Kommunikabilität.
Landläufig wird in der Universität angenommen, es sei die nachweisebare Qualifikation, die eine Beförderung ermögliche, tatsächlich verhält es sich andersherum: wer zur Beförderung zugelassen wird, kann seine Qualifikation beweisen; und alle anderen werden aussortiert. Denn wer will glauben, dass von 1.000 Genies, die ein Studium beginnen, nur eine Handvoll zur Beförderung geeignet ist? Aber darüber kann sich der Wissenschaftsbetrieb keine Rechenschaft ablegen.
So muss es dabei bleiben, dass die Wissenschaft nicht lernen kann, wie sie auf die Veränderung der Bedingungen ihrer Selbsterfahrungsmöglichkeiten reagieren könnte. Denn was das „Geschwätz der Leute“ für die Marktakzeptanz von Waren aller Art ist, ohne welches alle Werbung fruchtlos wäre, das ist die Kommunikation unter Wissenschaftler für den Erfolg von Forschungsergebnissen. Wissenschaft ist das Ergebnis von Kommunikation über Wissenschaft und nicht die Einzelleistung von Forschern. Dass aber die Wissenschaft auf der gegenteiligen Behauptung beharren muss, liegt in erster Linie an der strukturellen Selbstdetermination eines Funktionssystems, das in seinen Ergebnissen mehr über eine herrschende Zivilisationsideologie Auskunft gibt als über die Bedingungen ihrer Möglichkeit. Die Wissenschaft kann sich nicht als durch Forschung und Erfahrung entstandene soziale Form beschreiben, sondern durch die Einzelkompetenz von wahrheitsbedürftigen und vernunftsfähigen Subjekten, welche empirischen Befunde auch immer dagegen sprechen mögen.
Für die Beobachtung eines Lernprozesses, der etwas davon Verschiedenes in Erfahrung bringt, dürfte sich ein weiter Horizont des Nachdenkens entfalten, der vorest auf Standby geschaltet bleiben muss.