Was ist ein Argument? Der Troll als Aufklärer
von Kusanowsky
Kuinzig, das bedeutet, einen hinters Licht zu führen, aber anders als sonst das Wort gebraucht wird. Wenn du im Licht stehst, siehst du nichts; wenn du hinter dem Licht stehst, siehst du alles. Kuinzig sein bedeutet also: sich selbst oder einen anderen hinters Licht führen.
(„Heidegger minor“ in: Zimmermann, Martin und Fritz Heidegger. Philosophie und Fastnacht, zitiert nach: Kienzler, Kuinzig – Heideggers Umgang mit einem Wort)
(http://neonleuchte.blogspot.de/2012/11/ein-schelm-als-kuinziger-zeitgenosse.html)
Im Januar 2011 berichtete die Frankfurter Rundschau über einen amerikanischen Galeristen und Hobbymaler, der mit einem bemerkenswerten Trick Anerkennung fand: er fälschte Bilder von bekannten Malerpersönlichkeiten und bot sie über Mittelsmänner erfolgreich verschiedenen Museen als Geschenk an. Als man nach einiger Zeit schließlich herausfand, dass es sich um Fälschungen handelte, bemerkte man zugleich, dass kein Betrug vorlag, weil es unverbindliche Geschenke waren. Damit wurde die philosophische Nachdenklichkeit eines Museumsdirektors angeregt, der dann diesem Maler eine eigene Ausstellung widmen wollte.
Diese Geschichte macht den Unterschied zwischen einem Aufklärer und einem Betrüger deutlich. Beide maskieren sich, aber anders als der Betrüger rechnet der Aufklärer nicht damit, dass er dauerhaft unerkannt bleiben könnte, weshalb er im Voraus die Bereitschaft zeigt, sich selbst einen möglichen Schaden zuzurechnen. Wenn nun im Fall der Aufklärung bemerkbar wird, dass kein Schaden entstanden ist, bleibt nur der folgenlose Irrtum als Möglichkeit der Irritation und damit eröffnet sich ganz automatisch ein Horizont des Nachdenkens über die Bedingungen der Möglichkeit des Irrtums, aber auch über die Möglichkeit des Betrugs. Zu welchen neuartigen Ergebnissen das auch immer führen mag, der Betrüger vermag solches nicht. Warum eigentlich nicht?
Vermutlich liegt das daran, dass ein Betrug deutlich macht, wie sehr das beim Betrug verwendete Beobachtungsschema dem des ehrlichen Geschäftes ähnlich ist. In beiden Fällen wird die Unterscheidung von ehrlich und unehrlich benutzt und beiden Fällen wird eine Zurechnung im Falle des Erfolgs nur einseitig vorgenommen, nämlich in der Weise, dass der Betrüger die Schuld – und damit den Schaden – nur auf andere zurechnet, niemals auch auf sich selbst, sind doch die anderen selbst schuld, wenn sie sich täuschen lassen.
Im umgekehrten Fall wird der Gewinn einseitig zugerechnet gemäß der Maxime, dass die anderen gut daran taten, der Geschäftsofferte zu vertrauen: „Ich bin ja auch ehrlich“. Findet man aber heraus, dass die behauptete oder erwartete Ehrlichkeit gelogen war, rechnet man dem Betrüger wiederum einseitig das Scheitern der Beziehung zu, wodurch verdeckt wird wie „unehrlich“ diese Zurechnung ist. Und um diesen Zusammenhang zu verschleiern, kann die Aufklärung des Betrugs nicht aufklärerisch wirken, weil der Betrugs-Aufklärer alles daran setzen muss, sich dem Selbstverdacht der heimlichen Komplizenschaft zu entziehen.Der eingangs erwähnte Kunstfälscher entzieht sich diesem Beobachtungsgeschehen, in dem er sich diesem Beobachtungsschema verdeckt aussetzt, aber im Falle der Aufklärung zugleich eine doppelte Zurechnung eröffnet, wodurch etwas anderes als eine von beiden im Beobachtungsschema enthaltenen Optionen zum Vorschein kommt, also weder Ehrlichkeit noch Unehrlichkeit, sondern etwas, das sonst nur schwer anzubringen ist, nämlich: ein Argument. Daraus könnte allgemein folgern: ein Argument ist nur möglich, wenn Täuschung möglich wird, die keine Enttäuschung nach sich zieht.
Nimmt man diese Überlegungen ernst und behauptet man allgemein, dass nur argumentieren kann, wer nicht auf eine wie auch immer gerartete Vernunft der eigenen Meinung besteht, so könnte man sagen, dass Internet-Trolle besser geeignet sind, das Internet verstehbar zu machen als jeder Psychologie-Professor. Allerdings wären Methoden der Professinalisierung zu erlernen und ich möchte vermuten, dass die ersten Ansätze dazu im Bereich des cultural hacking zu finden sind, allerdings – wie mir scheint – kommen die ersten Versuche sehr keusch daher, was sicher kein Wunder ist, da selbst schon die keuscheste Form nicht risikolos ist und insbesondere auch Anforderungen der Reputationssteigerung gerecht werden muss, weil darin der entscheidende Attraktor besteht. Entsprechend müsste man damit rechnen, dass die erfolgreiche Professionalisierung von Internet-Trollen nicht durch universitäre Psychologen und Medienpädagogen ermöglicht werden kann, weil diese dort operierenden Programme Zurechnungen nur einseitig ermöglichen. Gewinn nur für den Professor und für diejenigen, die sich den Bedingungen unterwerfen, unter denen Beamten-Karrieren möglich sind. So aber funktioniert Aufklärung nicht. Alle Aufklärung muss doppelte Zurechnung und damit auch doppelte Erfolgschancen ermöglichen; und muss, wie eingangs erwähnter Kunstfälscher, aufgrund der eigenen Tarnung auch damit rechnen, erfolglos zu bleiben. Dieses Risiko ist aber keinem Wissenschaftsbeamten zuzumuten.
Aus diesem Grund ist der faustische Habitus der abendländischen Gelehrsamkeit nicht mehr argumentationsfähig.
@Kusanowsky : wieder einmal schwirrt mir der Kopf, doch diesmal, Klaus, bist Du nun wirklich nicht allein schuld, sondern die fleissigen Follower auf meiner Timeline, allen voran – an erster Stelle – dieser wirklich kaum noch zu überbietende Dirk Baecker, dessen zwei soeben veröffentlichte DEUTSCHE Texte mich wirklich gerissen habe. Ich war also im Rausch und aufgeregt, also nicht mehr ganz zurechnungsfähig.
Dann jetzt dieser Dein „neuer“ Text oben, bis mann begreift: dieser Text ist von 2011, (aber da kannte ich Dich ja noch nicht, Deinen BLOG nicht, obgleich wir beide uns ja schon einmal schreibend zeitlich begegnet waren, wie Du durch Ausgraben dieser alten Vergleichstexte ironisch und mich sozusagen entlarvend als „uralten“ Assoziologen gezeigt hast), ich kann ihn also nicht kennen. Dieser Text tritt aber auf „wie nagelneu“, und wer Dich kennt (inzwischen), der darf vermuten, das dieser Text auch (bei Deiner raffinierten Verlinkungstechnik) auf Neu gemacht wurde, sozusagen genauso raffiniert „gefälscht“, (durch sinnergänzende Berichtigungen und Verbesserungen) wie es dieser Maler getan hat.
Du deutest dies ja auch generös an (sozusagen als Geschenk an die Zweifler), wenn Du, zusätzlich zu diesem „neuen“ Text, noch die Bausteine anbietest, die Du schon viel früher erarbeitest hast zum nun erfolgten späteren Einbau. Du bist also der zäheste und unermüdlichste nichttrollige Doch-Troll, der seine eifrigen BLOG-Leser im schönsten aufklärerischen Sinne „hinter-das Licht-führt“, wie es der Meister Heidegger uns gelehrt hat – was Du dann auch noch billigerweise wie ein guter Lehrer selbst verbreitest, damit es am guten Ende doch alle zu begreifen vermögen.
Ich höre lieber erst einmal auf, erstens, weil mir gedanklich die Luft weg bleibt, und ich diese „Attacke“ – wie Stefan mir empfahl – blind geritten habe, ohne den inneren Aufbau zu bedenken und einfach den Anfang wagend. Und erschöpft bin ich, weil dieser Tag, der so dumpf und fast verzweifelt für mich anfing, dann doch ein Tag geworden ist voller euphorischer Hektik beim Twittern, beim Plutarch lesen, dann die Twitter-Antworten, die neuen Texte, ich bin doch kein junger Assoziologe mehr, sondern doch ganz klar und deutlich ein multimedial und polyvalent und ambivalent vielfältig überforderter, zwar williger aber eben doch: ein alter Mann. Aber dem ist es dann doch eine große Freude, Dich und Deine Texte zu kennen (und manchmal sogar selbst und sofort – wenn nicht, dann später und langsam -nachvollziehen zu können zu können: als ein Geschenk – wie dieser Museumsdirektor: DANKE).
Rudi K. Sander alias dieterbohrer aka @rudolfanders
„Wer nicht lügen kann, weiß nicht, was Wahrheit ist.“
(Friedrich Nietzsche, Zarathustra, Vierter und letzter Teil)
„Woher, in aller Welt, bei dieser Constellation der Trieb zur Wahrheit?“ So Nietzsche (1844-1900) im scheinbaren Unverständnis. Dann behauptet er, dass Lüge eine Lust ist. Keine Lüge aus der Not, sondern jede Lüge als ein Akt der Verstellung und der Täuschung. Lüge als die zweite Natur, die erst den Menschen zum zivilisierten und noch weiter zum bewussten Menschen macht. Nietzsche schreibt: „Soweit das Individuum sich gegenüber anderen erhalten will, benutzte es in einem natürlichen Zustand der Dinge den Intellekt zur Verstellung“. Und in Folge daraus gebiert die Sprache eine allgemeingültige Deutung über das, was Wahrheit sein soll. Im Prinzip wird dadurch der Maßstab gelegt, wie sich zu verhalten ist. Gleichzeitig wird in der Abstraktion festgelegt, wie der Kontrast der Wahrheit zur Lüge ist. „Ein Lügner benötigt gültige Bezeichnungen“. Worte, um das Unwirkliche als wirklich erscheinen zu lassen. Fiktion und Realität nähern sich in der Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Oder anders bei Platon: Er lässt Sokrates sagen, es sei der, welcher gleichermaßen das Wahre wie das Falsche kenne, der Bessere. Es stellt sich heraus, dass bei Platon der Wahrhaftige und der Lügner in einer Person zusammenfallen. (Kleiner Hippias)
Genau betrachtet, wird jeder Satz eine Spielart der Lüge sein. Damit wird nicht der Täuschung an sich mit Widerwillen begegnet, sondern nur die Folgen der Täuschung werden als verwerflich eingestuft. Wenn das so ist, bleibt die berühmte Frage des Pilatus: „Was ist Wahrheit?“. Wir finden Nietzsches ebenso berühmte Antwort: „Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien und Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die […] verbindlich dünken, die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, das sie welche sind, […] Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall […] in Betracht kommen“.
In den nachgelassenen Fragmenten unterstützt Nietzsche diese seine Sichtweise: „Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer, ‚metaphysischer‘ als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein: die Lust ist ursprünglicher als der Schmerz.“ Im Ton des Zeitgeists: Der Scheinheilige regiert die Welt. Wenn Wahrheit dann Schmerz bedeutet, liegt es nahe zu glauben, das eigene Leben sei im Imaginären, in der Illusion eben besser aufgehoben, besser regiert. Betrachtet man die Welt, die Natur und ihr Mimikri, kann man meinen, Nietzsche habe gerade dort diese Lust der Lüge verspürt, eine abstrakte Begründung für die Gunst der Lüge zu finden. In der anthropomorphen Sicht der Welt zur Sprache entdeckte er eben jene Unauflösbarkeit der Wahrheitsfindung und gründet diese Lüge und Täuschung als eine lebensnotwendige Fiktion. Gerade in der Sprache wie in der Wissenschaft ortet er jenes „Columbarium der Begriffe, [diese] Begräbnisstätte der Anschauung“, welches nur dem Menschen dient als allgemeiner Halt in der begrifflichen Wahrheit. Jedoch in der Umkehrung postuliert er die Lust an der Metaphernbildung als notwendig, weil der Mensch sich nicht in der „Zwingburg“ der begrifflichen Abstraktion heimisch fühlen könne. „Der Intellekt […] ist so lange frei, wie er täuschen kann, ohne zu schaden und feiert dann seine Saturnalien“. Eben das, was sich nicht in Begriffe auflösen lässt, gibt die Empfindung der Wirklichkeit. Die begrifflich logische Idee steht neben der Schöpfungsidee aus dem Unbegrifflichen.
http://www.amazon.de/gp/aw/cr/rR2J08VS6HSNFO0
Für den Fall, dass auch noch andere an dem Thema Interesse haben, will ich über den Zusammenhang von Seduktion und Persuasion noch etwas aufschreiben.
Welche Schwierigkeiten müsste die moderne Gesellschaft lernen zu meistern, nachdem zuerst der Buchdruck erfunden wurde und später eine enorme Masse von Massenmedien bereit gestellt wurden?
Nicht die einzige Schwierigkeit gewiss, aber eine sehr wichtige bestand in der Erfahrung, dass es mit massenmedialer Publizität enorm schwierig geworden war, von etwas zu überzeugen. Es war nun nicht mehr so leicht, andere und sich selbst von etwas zu überzeugen.
Auffällig wurde das bereits – wenn man auf Deutschland sieht – im sogenannten ersten massenmedialen Diskurs der Moderne, nämlich im Reformationsdiskurs. Nicht nur, dass Kommunikation von Überzeugung schwierig geworden war, vielmehr musste überhaupt erst in Erfahrung gebracht werden, dass es diese Schwierigkeit gibt, dass man sich also darauf einreichten, dass damit gerechnet werden müsste, dass Überzeugung zwar leichter als vorher aufzuschreiben und zu verbreiten, aber nicht so einfach kommunikativ zu vermitteln war. Das hängt damit zusammen, dass durch massenmediale Publizität viele Beteiligte von einander wissen, dass sie sehr unterschiedlich informiert sind und dass nicht jeder zu jedem Zeipunkt wissen kann, woher andere zum selben Zeitpunkt ihre Informationen beziehen, weil ja viele verschiedene Informationen durch massenmediale Produktion möglich sind.
Im Reformationsdiskurs kann man – so möchte ich vermuten – ablesen, wie sehr die Ausartung von publizierter Beschimpfung und gegenseitiger Verfluchung eine Immunreaktion war, die entstehen musste, um ein entsprechendes Problembewusstsein überhaupt erst entstehen lassen zu können. Erfahrungen mit massenmedialer Wirkung mussten erst selbstreflexiv beobachtbar werden, damit Kommunikation sie in Abläufe überführen und dadurch regeln kann.
Wenn dies geschieht, dann gilt für den Fall der Kommunikation von Überzeugung, dass sie sich disziplinieren und professionalisieren muss. Ein pädagogischer Ausdruck dafür ist die Steigerung von Medienkompetenz.
Ein Indikator für wellenartige Steigerung von sog. Medienkomptenz sind die seit dem frühen 18. Jahrhundert ritualisiert durchgeführten „Schundkämpfe“. Zuerst betraf dies Romanliteratur, dann Wochenzeitungen (besonders diese sogenannten „moralischen Wochenschriften“) und ab dem 19. Jahrhundert Tageszeitungen und die Verbreitung von Fotografien. Mit der Industrialisierung nahmen diese Schundkämpfe an Zahl und Geschwindigkeit zu: Trivialliteratur, Comics, Film, Radio und Fernsehen, dann Videofilme und Computerspiele. Der letzte bekannte Schundkampf fällt unter das Stichwort: „digitale Demenz“ – das Internet macht angeblich dumm.
Diese Art der Expertenerzählung stammt aus dem 18. Jahrhundert. Diese Schundkämpfe haben niemals dafür gesorgt, irgendetwas zu bekämpfen, sondern waren immer nur persuasive Strategien, die als Immunreaktionen auf dem Wege der Kommunikation von Überzeugung das zu Lernende überhaupt erst in Erfahrung gebracht haben. Das heißt: durch Schundkämpfe wurde nichts verhindert oder bekämpft, sondern es wurde gelernt, dass Aufwand gesteigert werden musste, um diese Innovationen behandeln zu können. Dieser Aufwand wiederum ist ebenfalls in der wellenartigen Steigerung von Inklusionsstrategien ablesbar: Einführung und Durchsetzung der Schulpflicht, Durchsetzung eines staatlichen Gewaltmonopols, Einführung einer Gewerbefreiheit, Durchsetzung von Informations- und Pressfreiheit, Ausbau von neuen Lehreinrichtungen, Verteilung von Rechten aller Art, Ausdifferenzierung von Fächern und Verwissenschaftlichung, Erforschung und Problematisierung von fast allem und jedem.
Auf diese Weise wurde Persuasion immer wieder neu getestet und nach erfolgreicher Strukturbildung schwieriger. Der letzte Flaschenhals war, wenn man so will, das Zulässigmachen von jeder Art massenmedialer Propaganda,die dann bald in sowas wie eine Komplettparanoia zur Zeit des Faschismus mündete, die aber auch für die Zeit des Kalten Krieges wichtig war, um katastrophalen Aussichten der atomaren Bewaffnung kanalisieren zu können.
Dieser Steigerungsprozess war also deshalb notwednig, weil es aufgrund gelingender massenmedialer Persuasion immer schweiriger wurde, Überzeugung zu kommunzieren. Entsprechend war die Erfindung der Atombombe und die ernst gemeinte Ankündigung ihres Einsatzes ein logische Folgewirkung. Wer nicht mehr überzeugt werden kann, muss mit der größten nur vorstellbaren Vernichtungskraft bedroht werden.
Fortsetzung folgt.
Zum Thema Schundkampfrituale https://differentia.wordpress.com/2012/10/16/schundkampfrituale/
Hier die Quelle des ersten mir bekannten „Schundkampfes“ aus dem 17. Jahrhundert:
Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung: die Urteile des Christophorus Besoldus (1629), Ahasver Fritsch (1676), Christian Weise (1676) und Tobias Peucer (1690) über den Gebrauch und Missbrauch der Nachrichten, herausgegeben von Karl Kurth 1944
Ob es sich dabei um ein modernes Schundkampfritual im engeren Sinne handelt, möchte ich ein wenig bezweifeln, weil ich vermute, dass die Klage über die „Zeitungssucht“ und das „Zeitungslesen“ noch eher den Charakter der religiösen Ermahnung hatte. Bestimmt jedenfalls ist „Zeitungssucht“ in der Semantik dieser Zeit noch nicht in Begriffen der Pathologie gefasst worden. Vielmehr dürfte es sich um die Klage über ein Laster handeln. Und solche Klagen dürften durchaus auch in Bezug auf andere Phänomene vorgebracht worden sein, wie über das Trinken, Rauchen, Tanzen und dergleichen.
Im Fischer-Lexikon Publizistik heißt es dazu: „Die beim Aufkommen jedes neuen Massenmediums später charakteristische kulturkritische Alarmstimmung breitete sich unter Geistlichen und Gelehrten auch im 17. Jahrhundert aus. In Pamphleten wird gegen die ‚Zeitungsssucht‘, ‚eitles, unnötiges unzeitiges und daher arbeitsstörendes, mit unersättlicher Begierde getriebenes Zeitungslesen‘ gewettert.“
In: Fischer-Lexikon Publizistik hg. von Elisabeth Noelle-Neumann und Winfried Schutz. Frankfurt/Main 1971, S. 248 (SB 468)
Literatur zur Geschichte der Pressekritik/zur sog. Pressedebatte des 17. Jhs.
https://www.staff.uni-giessen.de/gloning/pslb/prekri/prekri_b.htm
(Zur Ergänzung, beeindruckende Bibliographie LG Dorotyna)
Als weiteren Indikator für die zunehmende Erschwerung von Persuasion durch Strukturerffekte von Massenmedien könnte man auch die Popularität von Verschwörungstheorien nehmen, zzgl. der nimmermüden Versuche, Verschwörungstheorien zu widerlegen oder zu denunzieren. Wenn Überzeugungen nicht mehr so einfach kommuniziert werden können, weil es infolge erfoglreich kommunizierter und sozial verbreiteter Überzeugungen immer wahrscheinlicher wird, dass jeder weitere Versuch von etwas zu überzeugen bereits auf etablierte und differenzierte Überzeugung trifft, dann bleibt nur, wenn die Strategie der Persuasion noch immer nicht ausrecheind ermüdet wurde, die Steigerung, die Übertreibung und Vermehrung von Verschwörungstheorien. Wenn also Persuasion immer noch gelingen sollte, wenn sie schon fast nicht mehr gelingen kann, dann muss Hyperbolisierung ausprobiert werden.
So ist es kein Wunder, dass Verschwörungstheorien, die durch massenmediale Persuasion kommuniziert werden etwa seit dem 18. Jahrhundert vermehrt auftreten. Man dürfte bei genauerer Betrachtung ein etwa synchrone Strukturentwicklung von Schund- und Schmtuzkampfritualen und Verschwörungstheorien finden, weil beides den Charakter der Expertenerzählung hat. (Über den Begriff derExpertenerzählung schreib ich später noch etwas)
Und wenn jetzt das Internet als Massenmedium für Massenmedium zeigt, dass der Verbreitung von Verschwörungstheorie keinerlei Hindernisse mehr entgegengesetzt werden kann, dann dürfte das bei anhaltender Persuasion entweder in die Ermüdung führen oder zur trickreichen Automatisierung von entsprechender Textproduktion. Insofern entspräche auch die Automatisierung der Beobachtung einer Ermüdung, weil aufgrund des unglaublichen Textmaterials Menschen immer unfähiger zu eigenen Selektionen werden. Umgekehrte würde eine Automatisierung in diesem wie in anderen Fällen, wo die Mannigfaltigkeit von Sinnzusammenhängen jede Bewusstseinsfähigkeit überfordert, eine neue Übungsroutine in der Behandlung von Erfindungen der Automatisierung von Selektion und Verbreitung einleiten.
Fortsetzung folgt
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Über Verschwörungstheorie findet man bei Robert Anton Wilson viel Interessantes: Das Lexikon der Verschwörungstheorien. Frankfurt/Main 2000 (SB 1)
Als als eine weitere, sehr verlässliche massenmediale Persuasionsstrategie würde ich, neben den oben genannten (Schundkampf und Verschwörungstheorien), auch noch Hass- Angst,- und Hoffnungspropaganda nennen, zunächst gleichviel mit welchem Maß an Radikalität, Übertreibung oder Differenziertheit sie verbreitet werden mag.
Mindenstes gilt, dass Hass,- Angst und Hoffnungpropganda eine Reaktion auf die selbe Erschwernissituation ist: weil aufgrund verlässlich funktionierender massendialer Kommunikation Überzeugung nicht mehr so einfach kommuniziert werden kann, weil Überzeugungen schon in genügendem Maße verbreitet sind, müssen, wenn Persuasion immer noch nicht ermüdet wurde, Hyperbolisierungsstrategien ausprobiert und in ihrer Wirsamkeit überprüft werden.
Diese Hass-, Angst- und Hoffnungspropganda fasse ich zusammen unter dem Begriff exauguraler Kommunikation, die angepasst ist auf eine durch Massenmedien zerrüttete und darum unklare und unsichere Informationssituation. Exauguralität kommt da zum Vorschein, wo die Steigerung von Entropie erwartbar abläuft. Ich würde diese exaugurale Kommunikation von Massenmedien in folgende Komponenten zerlegen:
Hass- und Angstpropaganda: # Xenophobie # Alarmismus und Kastastrophenbedrohung (nicht zu verwechseln mit dem, was ich unter Apokalyptik verstehe) # Verlust- und Versagensängste # Feindbildpropaganda
Hoffnungspropaganda: #heile Welt # Fortschritt und Utopien # Gerechtigkeit, Vernunft und Wohlstand #Skandalisierungen aller Art
Exaugural ist diese Art der Kommunikation deshalb, da nirgendwo für Folgewirkungen, wie glücklich oder schädlich sie immer sein mögen, irgendwelche Verantwortungsinstanzen auffindbar sind. Ablesbar ist dies immer daran, dass, wenn Verantwortlichkeit gesucht wird, jede Art der Persuasion wieder bessere Ausgangsbedinungen hat. Denn niemand ist so einfach bereit sich Verantwortlichkeit für unerwünschte Folgen zurechnen zu lassen und niemand ist genauso wenig bereit, den Pokal für Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit anderen zu überlassen. Deshalb fangen Massenmedien immer wieder von vorne an, Ursachen zu suchen. Weil gerade Ursachenanalyse durch massenmediale Kommunikation beinahe vollständig verhindert wird, ist Exauguralität die immer noch beste und wirksamte persuasive Strategie. Weil durch Massenmedien eine verlässliche Informationssituation beinahe vollständig verhindert wird, können Massenmedien umso besser exaugurale Kommunikation betreiben.
Fortsetzung folgt
Persuasion entsteht als Problem, wenn handlungsfähige Subjekte beobachtbar werden; besser gesagt: wenn die Handlungsfähigkeit ob ihrer Kontingenz deshalb auffällt, weil Subjekte innerhalb eines sozialen Kontextes keine Rücksicht mehr nehmen müssen auf eine göttlich-absolute Wahrheit, auf Tradition, Autorität und Stand und Familienzugehörigkeit – kurz: die Kontingenz der Handlungsfähigkeit wird auffällig und damit problematisch, wenn Subjeke als freigesetzte Akteure auffällig werden, denen Mutwilligkeit und Absichten unterstellt werden kann, von denen wiederum nicht oder noch nicht so gut bekannt ist, welche Folgen daraus entstehen, wenn sie für die Kommunikation freigegeben werden.
Aus diesem Grunde konnten in der alten Gesellschaft Menschen als Subjekte zwar festgestellt und bemerkt werden, aber diese Feststellung konnte nicht sehr problematisch behandelt werden. Denn entweder war aufgrund von Autorität, Tradition und Stand die Legitimität des Handelns immer schon akzeptiert. Dann gab es keinen Grund zur komplizierteren Irritation. Oder, wurde eine Legitimation des Handelns nicht zugestanden, dann wurde auf die Legitimität des eigenen Handelns nach Maßgabe der bekannten stratifizierten Ordnung bestanden. Das heißt, dass am Ende einer jeden Kette von Legitimation, die sich um Legitimation bemüht, Gottes Wille stand. Gott habe es so gewollt. Solange der Zivilisationsmyhtos für die Begründung einer jeden Ja- und Nein-Operation in Anspruch genommen wird, wir immer nur die Legitimitation dieses Zivilisationsmythos reproduziert.
Unter dieser Voraussetzung ist Handlungsfähigkeit nicht weiter problematisierbar, weil die Lösung schon bekannt und als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann.
Dies ändert sich, wenn diese Selbstverständlichkeit (also: die Inkommunikabilität dieser Selbstverständlichkeit, bzw: die Selbstverständlichkeit der Selbstverständlichkeit) aufbricht. Dann entstehen handelnde Subjekte als Problem, das sich seine Lösung suchen muss und sie nur in schon bekannten, aber bis dahin wenig differenzierten sozialen Strukturen der Vergesellschaftung finden kann, nämlich: in Organisation. Handelnde Subjekte werden entsprechend in und durch Organisationen hergestelt.
Für die Gesellschaft bedeutet dies, dass nunmehr eine standardisierte und weiter standardisierbare Staatsbürokratie, die Auflösung von Zünften und Gilden, die Bauernbefreiung, die Einführung von Gewerbefreiheit und verrechtliche Kooperationen (Vereine, Verbände), die Einführung von Bildungsstätten aller Art nunmehr diejenigen Elemente organisierten, die durch die Ablösung der tradionellen Form freigestellt wurden.
Die moderene Organisation wurde zum sozialen Faszinosum, weil sie einen Ersatz liefern konnte für die immer schwächer werdende alte Form der Vergesellschaftung.
Zur Übersicht gebe folgende schematische Aufflistung einer evolutionären Abfolge von Formen der Vergesellschaftung (Inklusion):
1. Tribale, archaische Gesellschaft, Verbreitungmedium Sprache (Medium: Oralität) durch Verfügung über Menschen: Vergesellschaftungform hauptsächlich: Familie, Famileinverbände und im Raum verteilte Familiennetzwerke (Stämme) und marginal: Stand, Schichtung, Stratifizierung
2. Straftifizierte Gesellschaft, Verbreitungsmedium Schrift (Medium: Literalität, Ablösung der unbedingten Verfügbarkeit von Menschen und stattdessen Verfügung über Land) Infolge der Durchsetzung von Stratifizierung wir die bis dahin marginale Vergesellschaftungsform entmarginalisiert ohne die bekannte Form der Vergesellschaftung abzuschaffen. Das heißt: Stand und Familie werden nun zur hauptsächlichen Form der Vergesellschaftung und marginal entwickelt sich Organsation mit wenig Durchsetzungsfähigkeit
3. Die funktionale Gesellschaft entmarginalsiert diese und erweitert die bekannte Form der Inklusion durch Entmarginalsierung und Differenzierung von Organisationen, ohne die bis dahin üblichen Formen der Vergesellschaftung abzuschaffen. Vielmehr geraten Stand (Schicht) und Familie unter den Selektionsdruck dieser Form der Vergesellschaftung. Verbreitungsmedium ist massenmediale Publiziät. Die Verfügarkeit von Land wird durch die Verfügung über Geld ersetzt.
Für die Differenzierung von Organisationen spielt Persusasion eine entscheidende Rolle. Ich nenne diesen Prozess der Differenzierung die soziale Selbstentfaltung transzendentaler Subjektivität.
Fortsetzung folgt.
Ein entscheidendes Moment, das den Prozess der Entfaltung transzendentaler Subjekt geprägt hat, bestand in dem Wegfall von Vorbehalten gegen Eigenmächtigkeiten, Zudringlichkeiten und Absichten zur Unruhestiftung und zur Manipulation. Dazu gehörte als Voraussetzung auch der Wegfall von Vorbehalten gegen die Curiositas (theoretische Neugier, Blumenberg), die Ablehnung einer Erbsünde und der Verzicht auf die Erwartung eines jenseitigen Seelenheils. Ersetzt wurde dies durch den modernen Zivilisationsmythos der Menschenwürde, der durch die Kenntnisnahme einer Affenabstammung und der Entdeckung unbewusster Triebe nicht etwa gehemmt wurde, sondern im Gegenteil: diese Zugeständnisse waren ein wichtiger Teil im transzendentalen Selbstbeeindruckungsprogramm der modernen Gesellschaft.
In diesem Zusammenhang spielt schließlich Persuasion ein wichtige Rolle.
Ich unterscheide zwischen zwischen der exauguralen Persuasion, wie sie durch Massenmedien betrieben wird (Teile 1 bis 3 dieser Serie) und der Persuasion, wie sie durch Interaktion in Organisationen Konformität erzeugt. Der entscheidende Unterschied ist, das massenmediale Persuasion parasoziale Beobachtungsverhältnisse erzeugt, die darum eine nur sehr geringe Wirkung der Vergesellschaftung entfalten. Vergesellschaftung durch Massenmedien ist bislang nur einem sehr geringen Teil der Bevölkerung zugänglich: Künstler, Schriftsteller, Journalisten, Schauspieler – also für alle jene, die trotz einer geringen Erwartungen auf Inklusion durch sehr viel Geld in Gesellschaft verwickelt werden können, ohne, dass sie sich auf die Schutzwirkungen von Organisationen, die hauptsächlich durch Verträge entstehen, verlassen können. Der allergrößte Teil der Bevölkerung muss irgendwie durch Organisationen vergesellschaftet werden.
Damit das aber einigermaßen zuverlässig funktionieren kann, muss die Gesellschaft Vorkehrungen für den Fall von wahrscheinlicher Exklusion treffen. Diese Vorkehrung wird am wirksamsten dadurch erfüllt, dass auf alle Menschen irgendwelche Rechte verteilt werden noch bevor sie irgendwelche Pflichten erfüllen können. Das bedeutet, weil „Menschen“ nicht zur Vergesellschaftung taugen – denn mit der Tatsache, dass jemand ein Mensch ist, kann niemand etwas anfangen -, dass aus Menschen Personen gemacht werden. Personen werden gemacht, damit sie für Formen der Vergesellschaftung ansprechbar sind. Das beginnt bereits mit der Geburt, ja, man versucht sogar aus dem noch ungeborenen Menschen eine Person zu machen, indem man ihm Rechte zu spricht: ein Recht auf Leben, dann, nach der Geburt: ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, ein Recht auf Besitz, und ganz allgemein: ein Recht auf ein gelingendes, glückliches Leben.
Nur unter dieser Voraussetzung können genügend Anlasse zum Weitermachen von hoch komplizierter Kommunikation gefunden werden, weil die Aushändigung von Rechten zugleich einher gehen muss mit der Aufforderung, von ihnen Gebrauch zu machen, was sich sofort, wenn dies geschieht, basal als Vergesellschaftungswirkung bemerkbar macht: Um auf Rechten zu bestehen, müssen geeignete Adressen ansprechbar sein: Eltern, Lehrer, Vorgesetzte, wer auch immer. Wenn das geschieht, ergibt sich zugleich die Zumtung von Pflichten. Beides, die Aushändigung und Inanspruchnahme von Rechten und die Zumutung von Pflichten (was nur geht, wenn man sich selbst für die Beanspruchung von Rechten anderer ansprechbar macht), schnappt wie eine Falle zu. Diese Falle nenne ich „Inklusion“, Falle deshalb, weil sie zwar Sicherheit garantiert, aber eine enorme Determinierungswirkung hat, der niemand so leicht entkommen kann und ihre eigenen Risiken erzeugt.
Das zeigt, weshalb Vergesellschaftung durch massenmediale Kommunikation eher eine Seltenheit ist. Aufgrund parasozialer Beobachtungsverhältnisse stehen nicht immer geeignete Adressen zur Verfügung, an die man sich richten kann, wenn man Forderungen stellt. Prominente berichten darüber ständig, wenn sie etwa von Paparazzi verfolgt werden. Prominente genießen nicht so einfach die selben Möglichkeiten einer Privatsphäre wie alle anderen.
Fortsetzung folgt.
Noch einmal ein Nachtrag zum letzten Nachtrag, zum Unterschied von sozialen und parasozialen Beobachtungsverhältnissen.
Soziale Beobachtungsverhältnisse lassen eine auffindbare und rückadressierbare Zuordnung von Handlungen auf einen gemeinten Sinn zu. Soziale Beobachtungsverhältnisse bedeutet, dass folgende Kriterien erfüllt sein müssen, die darauf zuverlässig schließen lassen, dass Kommunikation tatsächlich stattfindet:
# Anwesenheit, bzw. Beobachtung von gegenseitiger Anwesenheit.
# Ansprechbarkeit, Adressierbarkeit unter der Bedingung einer doppelt kontingent geteilten Referenz über mögliche Gründe. Gilt bei Beobachtung von gegenseitiger Anwesenheit fast immer (Ausnahme: Unbekannte, die an der Wohnungstür leuten, Ansprache von Fremden auf der Straße, unbekantne Anrufer.) In solchen Fällen sind die Gründe für die Ansprache nicht immer sehr gut erkennbar und müssen mitunter durch kompliziete Manöver in Erfahrung gebracht werden
# aber auch bei Abwesenheit können soziale Beobachtungsverhältnisse entstehen, wie z.B. bei Briefwechsel. Das geht dehalb, weil die Beteiligten von einander wissen, das sonst keiner liest oder eine Antwort schickt als diejenigen, die von einander wissen, dass sie schreiben oder lesen. Aus diesem Grund wurde so etwas wie ein „Postgeheimnis“ eingeführt, um den sozialen Kontext der Kommunikation von Mitteilung und Information zu garantieren.
# auch das Marktgeschehen als Kommunikation zwischen Abwesenden und Unbekannten kann noch in soziale Beobachtungsverhältnisse eingelassen sein, allerdings wird spätestens in dem Augenblick klar, dass dies nicht ohne Information durch Massenmedien möglich wäre. Wo findet man Anbieter, Kunden? Woher weiß man was Kunden wollen? Woher weiß man, was der Verkäufer darf und nicht darf?
# auch die Interaktion zwischen einem Schauspieler/Musiker auf der Bühne und einem Publikum kann noch eine soziales Beobachtungsgeschehen sein. Aber spätestens da wird die Grenze zur parasozialen Beobachtung immer prekärer.
Bei steigender Kompelxität dieser Zusammenhänge kann bald die soziale Beobachtungsssituation in eine parasoziale umschlagen. Parasozial heißt, dass nicht mehr sehr gut verstehbar wird, ob überhaupt Kommunikation stattfindet. Kriterien dafür sind:
# Abwesenheit und/oder
# gegenseitige Unbekanntheit
# Nichtadressierbarkeit von Mitteilungen oder ein Nichtwissen darüber, ob Adressen ansprechbar sind, oder ob es sich überhaupt um Adressen handelt, bekanntes Beispiel: Briefkastenfirmen. Ein anderes Beispiel, beim Funken: „Hallo, hört mich jemand?“, Twitter z.B. ist zum größten Teil parasoziale Beobachtung. Anderes Beispiel: Flaschenpost.
# Kann man überhaupt an eine Adresse die Zumutung der Selbstreferenz richten? Z.B. an ein Tier, an einen Computer, an einen Komapatienten?
# Wie ist die informative Gesamtsituation geschaffen, die es schwieirig macht, Komplexität zu reduzieren?
# Gebete an Götter, Appelle an eine Masse, jeder Art der adressenlosen Verkündigung, Predigt, Protest usw.
Parasoziale Beobachtungssituationen lassen es fraglich werden, ob Kommuikation stattfindet oder nicht. Deshalb sind solche Situationen hoch anfällig für Paranoia, Hysterie, Verzweifelung, Gewalt, weshalb Parasozialität in Vermeidungsstrukturen eingelassen ist, die es möglich machen, solchen Situationen entweder aus dem Wege zu gehen oder sie durch Professionalisierung zu ordnen.
Die Frage ist doch, warum solche „parasozialen Beobachtungssituationen“ derart stabil sind. Wenn zwar kein Gott auf’s Gebet antwortet, also die Adressierbarkeit immer unsicher bleibt, aber die Beter sehen, daß auch andere beten, scheint das zu genügen für Stabilität.
Die Vergesellschaftungswirkung von Organisationen ist deshalb so stark, weil Organisationen sehr vorhersehbar Adressen erzeugen, sie ansprechbar machen und dadurch Partizipation motivieren. Ein wichtiges Moment der Motivation besteht darin, Strukturen für Persuasion zu eröffnen. Persusasion in Organisation heißt, der Aufforderung nachzukommen, über sich selbst zu sprechen, sich zu bewerben, die eigene Kompetenz anderen zur Beurteilung zu überlassen, die Bereitschaft, Verantwortlichkeit zu übernehmen und das Risiko des Scheiterns zu akzeptieren. Dazu zählt in besonders intransparenten Verhältnissen von Konzernen und Bürokratien die Bereitschaft, sich auf Strukturen der Gefälligkeit einzulassen: zeige dich sympathisch, zeige dich offen, versuche zu gefallen und lass zu, dass auch andere sich gefällig zeigen. Aber mehr noch. Gerade für Karrierestrategien ist es wichtig, andere für sich einzuspannen, Parteilichkeit zu suchen, zu wählen (und sie ggf. zu verraten), Aufmerksamkeit zu steigern, Konflikte zu suchen oder zu meiden, zu führen, sich durchzusetzen oder Konflikte zu schlichten. Persuasion in Organisation bedeutet, andere von irgeneiner Art von „Humankapital“ zu überzeugen, sei es, dass fachliche Kompetenzen deutlich werden, Sachwissen, aber auch charakterliche Eigenschaften, Habitus allgemein. Persuasion in Organisation bedeutet: zeige dich von deiner besten Seite und lasse zu, dass auch andere das gleich versuchen.
Damit so etwas gelingen kann, muss ein hoher Motivationsaufwand betrieben werden, weil ja die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, dass dies zuverläsig und zufriedenstellend gelingt. Ja, meistens gelingt es gar nicht und trotzdem muss die Bereitschaft motiviert werden, Persuasion zu versuchen.
Man kann nun viele Bücher darüber schreiben, wie so etwas konkret aussieht, muss man aber nicht. Du kannst auch den Verlauf deines Lebens als geeignetes Beispiel wählen. In Organisation lernen Menschen, als Personen zu handeln, als Personen wahrgenommen und beobachtet zu werden mit allem was dazu gehören mag, die Erfolge genauso wie die Misserfolge. Will man etwas genauer und differenzierter über Strategien der Persuasion nachdenken, dann empfehle ich, sich mit Mobbing zu befassen. Das Mobbing zeigt sehr deutlich, welche scharfen und strengen Determinationen in Organisationen entstehen und welche Härte, welche Hartleibigkeit, Niedertracht, ja sogar ausgesprochene Grausamkeiten als Effekte dieser sozialen Determination entstehen, und vor allen Dingen zeigt Mobbing, wie wenig Organisationen als soziale Systeme daraus lernen können.
Eine Sache, auf die es mir besonders ankommt, die man in Organisation nicht oder nur sehr, sehr schwer lernen kann, ist, Seduktion zu beobachten, was soweit geht, dass Seduktion mit Ablehnung, mit Geringschätzung, mit Vorbehalten, ja mit Angst und Ablehnung betrachtet wird, obgleich man relativ leicht zeigen kann, dass gerade Seduktion der Fall ist, der jede Persuasion motiviert und dazu führt, dass Persuasion, wann immer sie gelingt, ein parasitärer Effekt ist, der aus Seduktion resultiert.
Fortsetzung folgt.