Vergesslichkeit und Irrtum 2

von Kusanowsky

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Woraus ergab sich die Langlebigkeit der tribalen Gesellschaft? Warum gab es über tausende von Jahren hinweg kaum Veränderungen? Abgesehen von der Differenzierung der Gesellschaftsform durch ihre räumliche Verbreitung. Wodurch erklärt sich die Hartnäckigkeit der Ritualform, wenn man annimmt, dass alle Überlieferung nur durch lebende und tüchtige Körper möglich war, die, wie man weiß, durch Stoffwechsel und Wachstum enorm anfällig sind? Warum konnte sich gerade unter diesen Bedingungen eine so hohe Stabilität für eine stimmige Fortsetzung von Kommunikation ergeben, wenn die Menschenumwelt der Kommunikation extremen Risiken ausgesetzt war? Man denke dabei an die täglich mühevolle Deckung des Nahrungsbedarfs, an Krankheiten, Verletzungen, Naturgewalten. Der Grund dürfte  – entgegen der Annahmen materialistischer Konzepte des 19. Jahrhunderts, die bis heute soziologische Problemstellung determinieren – darin liegen, dass eben nicht die sogenannten körperlichen Bedürfnisse das größte Problem waren, sondern das, was man früher als „Geistigkeit“ apostrophiert hatte ohne genauer erklären zu können, was es damit auf sich hat. Denn ist Sprache erst einmal verfügbar, so gelingt Wissensproduktion, aber Wissen ist nicht einfach gegeben, sondern muss sich durch Kombination und Versuch als belastungsfähig erweisen. Und sobald etwas gewusst wird, man denke beispielsweise nur an das Wissen um Vaterschaft – eine höchst bemerkenswerte, weil unwahrscheinliche Leistung – müssen schon Formen der Tradierung entwickelt sein, damit Wissen nicht nur entstehen, sondern bestehen kann. Und die Überlieferung hat dann oberste Priorität, denn andernfalls würde das Wissen sofort wieder zerfallen, weil man es vergessen würde, was deshalb dramatisch ist, wenn der praktische Nutzen des Wissens das Überleben garantiert: nicht die Beschaffung des täglichen Nahrungbedarfs wäre das Hauptproblem, sondern das Wissen um den Unterschied zwischen genießbarer und ungenießbarer Nahrung. Und es kommt dann dringlich darauf an, diesen Unterschied nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Insofern nehme ich an – auch hier gegen trivial-materialistische Konzepte – dass die hauptsächliche Arbeit in der Wissensvermittlung durch ritualisiertes Erzählen bestand. Wenn aber Wissen möglich ist, dann ist immer auch mehr Wissen möglich, wodurch der Aufwand der Wissenserhaltung bald alle Kapazitäten ausgelastete, da nichts vergessen werden durfte. So ergibt sich ein Verhälntis zwischen Wissen und Lernfähigkeit: Mit dem Anwachsen eines Wissenskomplexität fällt die Wahrscheinlichkeit etwas weiteres zu lernen.
So würde sich dann auch die Prosperität der Kultur erklären, sobald Schrift als Aufzeichnungsverfahren entwickelt und eingeübt war, weil man jetzt sehr viel vergessen konnte, ohne die Überlieferung zu gefährden. Unter dieser Voraussetzung gab Vergesslichkeit Kapazitäten frei: Vergesslichkeit steigert Lernfähigkeit.

Das Internet ist in dieser Hinsicht eine großartige Irritationsmaschine, die neben vielen anderen auch dieses Problem aufgreift. Das Internet vergisst angeblich nichts, heißt es, als ob es etwas wissen könnte. Ein anderes mal wird das Löschen aus verschiedenen Gründen problematisiert. Und jetzt taucht die Frage auf, in welche Abhängigkeit Menschen geraten, wenn sie durch das Internet oder durch ein anderes Aufzeichnungsverfahren in ihrer Erinnerungsfähigkeit entlastet würden, als könnte man Klarheit über eine solche Frage gewinnen, wenn man Experimente unter der Voraussetzung durchführt, die empirsch gar nicht überprüfbar sind. Denn wenn man zur Überprüfung von Unterschieden der Erinnerungsfähigkeit Vergleichsmöglichkeiten anbietet, die sich aus der Benutzung von Aufzeichnungsverfahren ergeben, dann kann man nicht herausfinden was man denn vergessen hätte, wenn man diese Vergleichsmöglichkeit nicht hätte. Erst ein Aufzeichnungsverfahren ermöglicht ein Wissen um den Unterschied von erinnern und vergessen, erst ein Aufzeichnungsverfahren bringt in Erinnerung, dass etwas vergessen wurde, weil Vergleiche möglich sind. Und erst durch eingeübte Verwendung eines Aufzeichnungsverfahren kann die Hypothese aufgeworfen werden, was man erinnern könnte, wenn man dieses Verfahren nicht benutzt. Aber was soll damit bewiesen werden? Empirisch ist das Quatsch, aber trotzdem sind Irritationen darüber möglich. Und man müsste darüber nachdenken, unter welchen spezifischen Bedingungen diese Irritationen als Skandalon in Erscheinung treten.

Fortsetzung

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