Differentia

Die Zerrüttung von Beobachtungssicherheit #femen #burkaverbot

zurück zu Zustimmung oder Ablehnung? Eine double-bind-Beobachtung
Während in Weißrussland eine ohmächtige Opposition anlässlich einer Propagandaveranstaltung versucht, durch Applaus den Widerstand in der Bevölkerung gegen eine autoritäre Staatsgewalt zu mobilisieren, kann man in der Ukraine seit einiger Zeit ein anderes Phänomen beobachten, das  – der Widerstandsmaßnahme in Weißrussland nicht unähnlich – für einen Beobachter auf das Wagnis einer Zerrüttung der Beobachtungssicherheit aufmerksam macht. In der Ukraine sind es Frauenrechtlerinnen, die durch Halbkörperentblößungen auf Mißstände zeigen, die sich insbesondere um die Vernachlässigung von Frauenrechten drehen. „Femen“ heißt diese feministische Protestbewegung, die auf der phänotypischen Ebene das komplementäre Gegenstück zum Ganzkörperverhüllungsverbot – wie es in Frankreich durchgesetzt wird – darstellt. Während hier die Ganzkörperverhüllung durch eine Burka als Skandalon genommen wird, dem mit staatlichen Verbotsmaßnahmen zu begegnen sei, ist es dort das Skandalon von Entblößungsaktionen, die staatliche Menschenrechtsmaßnahmen, welche ja immer Schutzmaßnahmen sind, einfordern. In beiden Fällen geht es um Frauenrechte und man braucht sich gar nicht anstrengen, um einen Roten Faden zu verlieren. Denn es ist der Verlust eines Roten Fadens, der die Kommunikationen durchzieht, nicht der Rote Faden, der sie zusammenhalten könnte, welcher hier die Assoziationen bildet. So formuliert: Diese Erscheinungen passen nur deshalb zusammen, weil man nicht gut sagen kann, wie sie zusammengehören, wenn man sie hinsichtlich ihrer Phänotypik analysieren wollte. Die Verwirrung dürfte sich deshalb für einen Beobachter, der sich damit begnügt, Beobachter zu beobachten, nicht komplexer gestalten als sich diese Komplexität aufdrängt, um weitere Verwirrung in die Verwrrung zu bringen.
In allen Fällen machen diese Erscheinungen tendenziell auf eine Unsicherheitvermehrung von Beobachtungsroutinen aufmerksam. In Weißrussland soll fraglich werden, wer durch Applaus als Befürworter oder als Gegner des Staates beobachtbar ist; in der Ukraine sind diese öffentlichen Nacktinszenierungen kaum zu unterscheiden von Casting-Show-Kandidatinnen, die für mehr Aufmerksamkeit beinahe alles zu tun bereit sind. Nicht zufällig stehen solche Protestformen neben Maßnahmen der Finanzmittelbeschaffung von Studentinnen, Hausfrauen und Stewardessen, die durch den Verkauf von Nacktfotos Projektfinanzierungen ermöglichen wollen. Und vermutlich würde jeder Spötter mit seinem Spott dem Widersinn der nächstmöglichen Skandalisierungsform ohnehin schon hinterher gelaufen sein noch bevor diese sich massenmedial inszeniert. Dem Narren ist seine Freiheit abhanden gekommen, weil sie nunmehr überall in Anspruch genommen wird.
Eine funktional differenzierte Gesellschaft zeichnet sich im wesentlichen durch einen vollständigen Verlust einer übergreifenden Welterzählung aus, welche die Heterogenität sozialer Komplexität in ein für alle auf gleiche Weise beobachtbares Schema gießen könnte. Damit ist prinzipiell auch eine immerwährende Beobachtungsunsicherheit verbunden, die es zulässt, dass gerade unter dieser Voraussetzung eine Systemstabilität durch Erwartung von Instabilität gewonnen werden kann. Alle Unruhe und Unsicherheit, schon in der Zeit Michel de Montaignes bemerkbar, wird damit zur Voraussetzung für Formenbildungen, die sich an ihrer immer möglichen Instabilität erhärten. Die wissenschaftlich Methode der exakten Messung findet hier ihren Ursprung genauso wie die patriachalische Gesellschaft mit ihrer strengen Gesittung, der engstirnige Nationalismus genauso wie das Leistungsprinzip, das ein fortwährendes Ungenügen nach erbrachter Meisterleistung zum Ausgangspunkt nimmt. Unruhe und Unsicherheit waren es gewesen, die der modernen Gesellschaft ihre imperiale Durchsetzungskraft verlieh. Insofern stellen die hier angeführten Beobachtungsunsicherheiten nichts Ungewöhnliches dar, sind sie doch nichts anderes als eine, wenn vielleicht auch explosionsartige Zunahme von Strukturen der Unsicherheitsvermehrung. Und solange diese Unsicherheiten wie gewohnt nur die Stimmung stören, die als das zu Kritisierende, das zu Überwindende oder als das zu Bekämpfende auf’s Korn nehmen, solange gibt es wenig Grund, sich ob solcher Verwirrungen aufgeregt zu irritieren, ist doch die Gesellschaft wie keine andere darauf trainiert, auf die Störung von Stimmung flexibel mit Abläufen zu reagieren, die sich routiniert über alle Störkommunikation durch Gegenstörung hinwegsetzen: wenn nackte Mädchen auf der Straße tanzen, kommt einfach die Polizei und schafft sie beiseite. Das ist ihre funktionale Bestimmung.
Eine interessante Veränderung dürfte sich darum erst dann bemerkbar machen, wenn sich eine Unsicherheit in der Unterscheidung von Stimmung und Abläufen einstellt. Solange die Abläufe für die Organisation von Protesten und die zu ihrer Niederschlagung ungestört bleiben können, wird einer bunten Welt immer nur weitere bunte Tupfer hinzugefügt. Aber was wäre – und dieser Fall wird von mir seit geraumer Fall erwogen – wenn die Unterscheidung von Stimmung und Ablauf nicht mehr passgenau angewendet werden kann, wenn also die Störung der Stimmung nicht mehr eindeutig von der Störung der Abläufe zu unterscheiden ist?

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Zustimmung oder Ablehnung? Eine double-bind-Beobachtung

Der als „letzter Diktator Europas“ kritisierte Lukaschenko nahm die teilweise bizarre Parade mit 160 Fahrzeugen ab … Die Opposition hatte ihre Anhänger aufgerufen, Lukaschenkos Rede bei der Parade mit heftigem Klatschen zu stören. Die Miliz warnte daraufhin vor „eigenmächtigem Applaudieren“. Mehrere Zuschauer, die trotzdem klatschten, seien abgeführt worden, hieß es. (Herkunft: Bericht über Weißrussland in Focus online)

Ein diabolisches Spiel. Eine machtlose Opposition unterläuft eine eingespielte Unterscheidungsroutine. Die Unterscheidung von Zustimmung und Ablehnung wird durch die Maßnahme, Ablehnung durch Klatschen zu signalisieren, kontingent gesetzt, was zur Folge haben könnte, dass die festgenommen Applaudierer entweder Oppositionelle waren, die zum Weiterklatschen animieren wollten, oder schlecht informierte Zuschauer, denen ihre Zustimmung als Ablehnung ausgelegt wird und durch die Maßnahmen der Staatsgewalt nun darüber informiert werden, wie unschuldig sie sind, was erforderlich macht, diese Unschuld nachzuweisen. Oder es waren Oppositionelle, so markierten sie ihre Ablehnung durch Zustimmung, für die sie bestraft werden könnten, es sei denn sie könnte nachweisen, dass sie nur schlecht informiert waren. Das Diabolische an diesem Spiel ist, dass die Maskierung beiderseitig in Anspruch genommen werden kann. Denn nicht nur Oppositionelle könnten sich als unschuldige Bürger tarnen, sondern auch die Staatsgewalt könnte Polizisten als Applaudierer unter die Zuschauer mischen um durch anschließende Beobachtung herauszufinden, ob es Oppositionelle gibt, die mitklatschen möchten.
Solche Maßnahmen zeigen einen Eskalationsprozess der Verschärfung einer Konfliktbeziehung, die nicht mit Gewalt fortgesetzt werden kann, wenn die Gewaltmittel nahezu vollständig nur auf der Seite des Staates vorhanden sind. Man erfindet solche Maßnahmen zur Zerstörung aller Stabilität von Beobachtungssicherheiten, was freilich nur solange ein geeignetes Mittel ist wie einer unangreifbaren Macht eine genauso hilflose Opposition gegenüber steht. Wären die Gewichte nicht ganz so eindeutig ungleich verteilt könnten solche Maßnahmen durchaus ihr Ziel verfehlen. Denn auch eine Opposition will Macht erringen und braucht dazu Sicherheiten.
Aber bemerkenswert ist hier die Zerrüttung von Unterscheidungsroutinen, die streng genommen keinen Rückweg mehr zulassen, weil ja solche Maßnahmen weltweit beobachtet werden und auch woanders die Fantasie bereichern, nicht nur im politischen Bereich.
Auch im Wirtschaftssystem kann man solche Zerrüttungen feststellen wie etwa an dem Imperativ, den Twitter ausgibt: Folge deinen Interessen!
Einerseits findet hier eine Verkehrung statt. Denn das ehedem verwendete Recht, seinen eigenen Interessen zu folgen, entstand als Widerspruchshandlung gegen eine Gehorsampflicht, die den Interessen übergeordneter Instanzen Vorrang einräumte. Andererseits wird dieser Imperativ nunmehr in die Indifferenz von Beobachtungen überführt. Den der Algorithmus des Twitternutzers verfolgt den Nutzer, indem der Nutzer andere Nutzer verfolgt. Dabei ermittelt der Alorithmus die Interessen eines jeden Nutzers und sortiert für den jeweiligen Nutzer Informationen so, dass sie dem Nutzungsverhalten des Nutzers entsprechen. Der Nutzer folgt dann den Vorgaben eines Algorithmus. Und wie gering die kognitive Anpassungsfähigkeit an solche Verkehrungen sind, zeigt dieser Dialog: Neulich, bei Twitter
Diese Indifferenz durch Auflösung von Beobachtungssicherheiten könnte, wenn sie sich irgendwie zum Nachteil ausbilden, für alle Beteiligten zum Nachteil werden, also auch für ein Unternehmen wie Twitter, das über seine Nutzer alles wissen will und durch den Algorithmus genau diese Sicherheit unterläuft.

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