Die kritische Grenze der Privatheit des Ichs


Gotthard Günther über das Phänomen der Geschichte bei Friedrich W. J. Schelling

Es scheint uns, dass wir Schelling interpretativ kaum vergewaltigen, wenn wir sagen, dass für ihn hinter dem Phänomen der Geschichte kein Seins-, sondern ein Kommunikationsproblem steht. Der bisherige geschichtliche Prozess hat zu einer absoluten Isolation des individuellen Ichs geführt. Damit aber ist der Anstoß zu einer neuen Entwicklung gegeben. „Denn Person sucht Person”. In der Realität ist nach Schelling die Notwendigkeit angelegt, mit sich selbst zu kommunizieren. Das setzt aber voraus, dass erst einmal Kommunikationsorte, also individuelle Subjektivitäten, produziert werden müssen. Diese Aufgabe ist durch die bisherige Geschichte ausreichend erfüllt worden. Sie hat sie in der Tat so gut erfüllt, dass durch die radikale Isolierung von spezifischen Erlebniszentren in der Welt ein in die metaphysischen Wurzeln aller Existenz hinunterreichender Krisenzustand entstanden ist. Das Individuum hält die absolute Vereinsamung, in die es als Rezeptionsstelle für Offenbarungen und andere Kommunikationen gedrängt worden ist, nicht mehr aus, und wir haben in der Gegenwart eine kritische Grenze erreicht, wo die Privatheit des Ichs eine solche Intensität erreicht hat, dass „die letzte Verzweiflung sich seiner bemächtigt”. (Hervorheb. v. KK)

Aus: Günther, Gotthard: Metaphysik der Institution, Handschrift aus dem Nachlass. (Dank an @Nick_Haflinger)
Bild links: Gotthard Günther, rechts: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling

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