Tor oder nicht Tor?
von Kusanowsky
Anlässlich des Fussballspiels zwischen England und Ukraine, bei dem ein gefallenes Tor nicht gezählt wurde, hat Postdramatiker eine sehr ausführliche Analyse der Beobachtungszusammenhänge und Beobachtungsverhältnisse angestellt. Interessant daran ist, dass Postdramatiker sehr genau eine Beoachtungssituation beschreibt, die ich als Ausgangspunkt für eine Parannoik nehmen würde und nicht mehr als Ausgangspunkt für eine Kritik und zwar aus den Gründen, die Postdramatiker selbst formuliert:
Der Torrichter entschied: Der Ball war nicht hinter der Linie, es ist kein Tor für die Ukraine zu zählen.
Es handelt sich also um ein Entscheidungsspiel bei dem in einer entscheidenden Szene eine hoch spielrelevante Entscheidung zu treffen war, die auf dem Urteil einer einzelnen Person beruhte. Und diese Entscheidung ist wiederum überprüfbar durch die Fernsehtechnik. Denn nicht nur ein Torrichter wurde so positioniert, dass kein weiteres Wembley-Tor geschehen könnte. Sondern auch eine Fernsehkamera wurde so positioniert, dass eine genaue Beobachtung der Situation des Balls im Verhältnis zur Torlinie möglich wird. Und die Bilder dieser Kamera zeigten in Zeitlupe bzw. Standbild, dass der Ball hinter der Linie war. Man könnte nun sagen: Die Spielbeteiligten leben in der Gnade der Ignoranz, die Fernsehzuschauer verfügen über die technische All- oder zumindest Mehrwissenheit. Nun ist es aber so, dass diese Bilder offenbar auch wieder ins Stadion selbst übertragen und dem Publikum, den Spielern und den Unparteiischen gezeigt werden. Es entsteht eine hochgradig seltsame Situation:
Publikum, Spieler und Unparteiische können die Bilder der Torkamera sehen und auf diesen Bildern beobachten, dass der Ball hinter der Linie war. Das aber hat keinen Einfluss auf die (bereits getroffene) Entscheidung von Tor- und Schiedsrichter, die nämlich den Ball als nicht hinter der Linie festgestellt und damit kein Tor gegeben hatte. Selbst nach Beobachtung der Bilder, auf denen der Torrichter das Bild des Balls und seiner selbst im Akt der Entscheidung sieht, gibt es keine Möglichkeit, diese Entscheidung zu korrigieren. Es handelt sich um eine sogenannte Tatsachenentscheidung: Das heißt, dass die Entscheidung eine Tatsache schafft. Der Torrichter stellt also nicht etwa das Faktum eines Tores oder Nichttores fest, sondern seine Entscheidung schafft das Faktum von Tor oder Nichttor. Deswegen kann auch die Entscheidung nicht durch eine bessere Beobachtung korrigiert werden. Denn auf die durch die Entscheidung geschaffene Tatsache Tor/Nichttor hat eine andere Wahrnehmung keinen Einfluss.
Interessant ist das deshalb, da ja alle Beteiligten (Schiedsrichter, Spieler, Zuschauer im Stadion und außerhalb) gleichzeitig beobachten können, wie es sich verhält. Denn will man auch behaupten wollen, dass der Schiedsrichter falsch entschieden hat, so hilft das alles nichts, um so mehr, da auch der Schiedsrichter sofort wissen kann, dass er falsch entschieden hatte. Er kann nur Irrtum eingestehen, was allerdings folgenlos bleiben muss.
Die Lösung wäre, dass der Schiedsrichter beim nächsten Mal gleich die Fernsehbilder live im Stadion anschaut um wissen zu können, was sich nur 15 Meter vor ihm abspielt. Das würde aber bedeuteten, dass die Wahrnehmung des Schiedsrichters prinzipiell nicht mehr entscheidungsrelevant sein kann, auch dann nicht, wenn er die live-Bilder in Stadion anschaut. Denn für die Wahrnehmung macht es letztlich keinen Unterschied ob man dahin (also aufs Spielfeld) oder dorthin (also auf eine Leinwand) schaut. Denn beide Fälle sind auf Wahrnehmung angewiesen, damit ihre Beobachtung geschehen kann, aber wenn die Beobachtung von Wahrnehmung geschieht, ist die Wahrnehmung nicht mehr entscheidungsrelevant, besser: Wahrnehmung kann nicht als Rechtfertigung für eine Entscheidung genommen werden. Denn es ist ja nicht so, dass Fernsehbilder die Wahrnehmung verbessern, sondern sie machen nur Wahrnhemung besser beobachtbar.
Das hieße dann: was auch immer der Schiedsrichter sehen (wahrnehmen) mag, relevant ist das nicht mehr. Was auch für die Wahrnehmung aller anderen gilt.
Treiben wir das Spiel noch weiter: Es wird ein Chip in den Ball eingebaut, der signalisiert, wann der Ball die Linie übrschritten hat. Zudem baut das Fernsehen eine Kamera auf, die die Torlinie filmt. Und es gibt einen Torrichter, der die Linie beäugt. Nun sagt die Chiptechnik: Tor, die Kamera zeigt: kein Tor. Der Torrichter sagt: Tor. Wer hat „recht“? Trifft man eine Präferenz für die Technikentscheidung und setzt zwei Technologien ein, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen – wer entscheidet dann? Wer kann beobachten, wer falsch entscheidet? Müsste eine Technik eingesetzt werden, die die reibungslose Funktion der eingesetzten Technologien beobachetet? Spaßig.
Es ist prinzipiell nicht auszuschließen, dass die Aufnahmen der Torkamera manipuliert wurden, um so einen Zweifel an der aktuellen Torentscheidungsfindung zu sähen. Es wäre nicht das erste Mal bei dieser Veranstaltung, dass Bilder manipuliert wurden, um Meinung zu machen.
„Treiben wir das Spiel noch weiter …“
Vermutlich wird in sportlichen Angelegenheiten die Sache so brisant nicht, weil Sport Gerechtigkeit, also Fairness, kommuniziert. Fairness bedeutet ja, dass der Irrtumsvorbehalt immer schon berücksichtigt ist, dass also der Unterschied von wahr und falsch nur darum treffsicher anschlussfähig ist, weil die Beteiligten von einander wissen, dass keine Notwendigkeit dafür gegeben ist das Spiel fortzusetzen. Es handelt sich um ein Spiel, das gerade, weil es nicht geschehen muss, die Begeisterung umso mehr steigert, je größer die Freiheit aller Beteiligten ist, das Spiel nicht fortzusetzen. Darum Fairness. Fairness stellt gleichsam sicher, dass das Spiel trotz aller Freiheiten des Unterlassens dennoch weiter geht. Der Grund dafür ergibt sich, wenn die Fairness sabotiert wird, z.B. durch Doping, Korruption oder durch andere Maßnahmen. Dann heißt es: so geht es nicht. Fairness ist nichts anderes als Gerechtigkeit, durch die die Irrtumsfähigkeit der anderen im Voraus in Rechnung gestellt wird. Die Regeln der Fairness funktionieren gleichsam als eine antezipierende Verrechnungsregelung des gegenseitig erwartbaren Scheiterns. Fairness heißt, dass jeder dem anderen etwas gönnt, was deshalb geht, weil das niemand muss. Durch Fairness werden die Motivationsgründe zum Weitermachen geliefert.
Interessant wird das das erst, wenn es sich nicht mehr um ein Spiel handelt. Vor Gericht etwa, in der Schule oder in einer ökonomischen Konkurrenzsituation. Dann wird der Umstand brisant, dass die „Washeit“ der Wahrnehmung einzelner keine Rechtfertigungsgrundlage für eine Entscheidung ist. Das meine ich mit Paranoik als Technik der nicht überzeugten Verständigung. Meine Spekulation lautet, dass deshalb, weil dies erkenbar wird, auch in solchen Situation irgendwann Sportlichkeit berücksichtigt werden muss, damit Sozialität noch funktioniert. Oder sie funktioniert nicht mehr, wenn Sportlichkeit ausbleibt.
„dass die Aufnahmen der Torkamera manipuliert wurden“ – für einen Paranoiker ist diese Überlegung eine einfache Aufwärmübung.
[…] Autor: Ulf Schmidt Download Artikel als PDF Macht man sich den Spaß, den von Kusanowsky (hier) aufgenommenen Ball hinsichtlich der Reflexion der Ereignisse um das vieldiskutierte (Nicht-)Tor im […]
„Das hieße dann: was auch immer der Schiedsrichter sehen (wahrnehmen) mag, relevant ist das nicht mehr. Was auch für die Wahrnehmung aller anderen gilt.“
Wenn wir jetzt noch in Betracht ziehen, dass -paradox, dialektisch, aporetisch, etc. – dasjenige, was zusehens an Relevanz verliert, gleichzeitig auf geheimnisvolle Art in allen Bereichen immer relevanter wird ( Beispiel: Kreditverlust des Expertenwissens erzeugt einen nicht endenwollenden elitaristischen Hyperakademismus) kommen wir der Sache näher, indem wir uns ein wenig von ihr entfernen:
Je deutlicher sich Unentscheidbarkeit ins Blickfeld drängt, desto unabweisbarer wird die Forderung nach Entscheidungen als performativer Simulationen.
Weil nicht mehr, weniger denn je, eindeutig entschieden werden kann, muss eindeutiger denn je entschieden werden.
Vergessen wir nicht, ad vocem Schiedsrichter:
„In der Mitte der zwei, im Zwischen von Welt und Ding, in ihrem inter, in diesem Unter- waltet der Schied“ (Heidegger, Unterwegs zur Sprache)