Differentia

Was ist Paranoik? Eine Kurzdefinition

Paranoik ist der Versuch, eine kommunikative Technik der nicht überzeugten Verständigung zu entwickeln. Warum wird so etwas gebraucht?

Wir alle müssen uns irgendetwas ausdenken, um dem Irrenhaus zu entkommen. Die Variante der modernen Gesellschaft bestand darin, allen anderen die eigene Vernunft zu beweisen. („Sapere aude!„) Bis zur Industrialisierung war das eine ganz hervorragende Leistung, weil mit Vernunft etwas ganz Irres geleistet wurde, das historisch ohne Vorbild ist. (Fortschritt)

Seit der Industrialisierung jedoch ist das der Weg geworden, der geradewegs ins Irrenhaus führt. Wer noch immer ungebetenerweise meint, allen anderen unmissverständlich die eigene Vernunft zu verdeutlichen, setzt sich längst dem Verdacht aus, nicht mehr alle Tassen Schrank zu haben. Wer bezweifelt denn, dass ich vernünftig bin? Du vielleicht? Das kannst du mir wahrscheinlich sehr vernünftig erklären, gell?

Wer die Kritik nicht aufgeben will stellt mit der Internetkommunikation nun konsterniert fest, dass man längst im Irrenhaus angekommen ist. Es ist kaum zu erklären, wie man darein kommen konnte und freilich noch schwieriger wieder herauszukommen. Daraus folgt die Einsicht, dass man das gar nicht erst versucht.

Paranoik wäre entsprechend eine Technik der Heimischwerdung, eine neue Technik der Sesshaftwerdung, des sich Einrichtens auf Idiotien aller Art, indem man alle Vorbehalte, die sich durch Kritik eingespielt haben, einfach fallen lässt.
Paranoik wäre damit eine Methode zur Fortsetzung eines einzigen Computerspiels, dessen Regeln nur durch seine Fortsetzung ermittelt werden können.

Die neue Aufforderung könnte lauten: Habe den Mut, deine Verstandesfähigkeiten über alle bekannten Grenzen hinaus zu erweitern, indem du Beschränkungen der Kritik nicht mehr kritisierst. Das heißt, dass die Erweiterung über eine weitere Stufe der Selbstbeschränkung funktioniert. Sorge dafür, dass dich keiner mehr ernst nimmt und schau, ob das geht und wie.

Und wer glauben möchte, dass das sehr einfach sei, sollte sofort damit anfangen, es auszuprobieren.

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Maschinenkommunikation und Vermeidungsproblematik

  • Trolle stören Diskussionen nachhaltig.
  • Trolle geben schlechte Ratschläge.
  • Trolle verdrehen Fakten oder fälschen sie.
  • Trolle verhindern den Aufbau von Vertrauen.
  • Trolle erhöhen die Schwelle, die Fragende und Unwissende überschreiten müssen, um an Diskussionen teilnehmen zu können.
  • Die Präsenz von Trollen birgt die Gefahr, dass jeder User als Troll wahrgenommen werden könnte. (Herkunft)

Diese Aufzählung dürfte weithin bekannt sein; sie stellt eine kleine Liste der Vermeidungsproblematik dar, die aus Strukturen der funktionalen Differenzierung entstehen:

  • Diskussionen werden zur Ordnungsfindung benötigt. (Also: vermeide Unordnung)
  • Da kein Einzelner die Ordnung vollständig überschauen kann entsteht Ratlosigkeit. (Also: sorge dafür, dass Ratlosigkeit nicht der letzte Stand der Dinge ist.)
  • Eindeutigkeiten (Fakten) müssen gefunden werden. (Also: glaube nicht alles, sondern überprüfe.)
  • Da keiner alle Fakten überprüfen kann, muss Vertrauen hergestellt werden. (Also: täusche nicht.)
  • Die aus Diskussionen entstehenden Entmutigungen dürften nicht zu groß werden, sonst sinkt die Beteiligungsbereitschaft. (Also: sei immer nett zu anderen.)
  • Auch von der Internetkommunikation sollte erwartet werden, dass sie vernünftig funktioniert. (Also: Halte dich an die Regeln.)

Die Banalität dieser Vermeidungsproblematik wird plausibilisiert durch eine weitere Banalität: wenn jeder sich daran hält, funktioniert die Kommunikation zur Zufriedenheit aller.  Und die durch keine Erfahrung gedeckte zivilisatorische Diszplin der modernen Gesellschaft besagt: Darauf kommt es an!

Beeindruckend ist die unglaubliche Zähigkeit und Hartnäckigkeit, mit der diese Unterscheidungsroutinen funktionieren. Sie lassen sich nicht so leicht durchkreuzen, sabotieren oder gar zerstören. Alle Empirie als Irritationsresultat, welche zeigt, dass die diesen Routinen zugrunde liegenden Postulate und Prämissen gar nicht gelten können (denn woher käme das Scheitern solcher Strukturen?) sorgt nur für die Wiederholung der gleichen Erwartungen, welche, sobald komplex ausdifferenziert, einen Dschungel hervorbringen, dessen Dickicht es beinahe unmöglich macht, dass anders geartete Erfahrungen anschlussfähig sind.

Dieser Dschungel entsteht durch Inkommunikabilitäten der funktionalen Differenzierung. Jeder macht seinen Job. Aber jeder erwartet von allen anderen, dass alle anderen auf alle anderen Rücksicht nehmen. Jeder erwartet von anderen genau das zu tun, was keiner leisten kann, weil jeder nur seinen Job machen kann und muss.

Ein Grund dafür, weshalb sich diese zivilisatorische Disziplin als apodiktischer Mythos ausbilden kann, liegt auch in dem Umstand begründet, dass Menschen im Vergleich zu sozialen Strukturen einen erheblichen Nachteil mitbringen. Sie sind leicht erschreckbar, verletzbar, aber auch verführbar und korrumpierbar. Und darum empfänglich für Versprechungen, die diesen Nachteil aussichtsreich vermeiden.

Dieser Nachteil kann aber auch ein unschätzbarer Vorteil werden, wenn sich nämlich die Bedingungen ändern, unter denen menschliche Empfindlichkeit noch ein Problem sein könnte. Welche intelligenten Fähigkeiten Maschinen auch immer zeigen können, eines können sie nicht: atmen, verdauen, schwitzen, fühlen, also: Leben. Dieser Umstand macht, dass eine jede Maschinenkommunikation eine vollständige Rücksichtslosigkeit gegen alles zeigen muss, weil sie auf sich selbst unmöglich Rücksicht nehmen kann. Und solange erwartet wird, Menschen müssten dieser Härte gewachsen sein, verlieren sie immer, weil jeder Mensch mindestens auf sich selbst notwendig Rücksicht nehmen muss.

Welche Schlussfolgerung könnte man daraus ziehen, wenn Maschinenkommunikation zur entscheidenden Bedingung für die Fortsetzung aller Kommunikation wird?

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