Der Raub der Seele. Über die Doppeldeutigkeit der Plagiatsaffären

von Kusanowsky

In dem fast vergessenen Buch „Der Untergang des Abendlandes“ aus dem Jahre 1918 beschreibt Oswald Spengler, den „kultürlichen“ Prozess des Aufstiegs und Niedergangs von Kulturen. Spenglers Auffassung zufolge war er selbst Zeitzeuge eines normalen Vorgangs innerhalb der Weltgeschichte, nämlich der Altersperiode der abendländischen Kultur, deren faustische Seele zur Zeit Karls des Großen zur Welt gekommen war und welche sich im Laufe des 20. Jahrunderts von der Welt verabschieden würde, nicht ohne zugleich die Grundlagen für das Entstehen einer ganz neuen Kulturseele zu schaffen.
Wollte man diesem Gedanken folgen, könnte man die faustische Seele des untergegangenen Abendlandes als eine von der digitalen Seele abgelöste und durch diese beendete Kulturentwicklung betrachten, welch letztere in unseren Tagen ihr Säuglingsalter durchläuft. (Siehe dazu auch: Kommunismus, Liberalismus: Demenzphänomene des Politischen)

Insbesondere die Entwicklung des Internets und die sich mit ihm ausbreitenden Dämonien machen wenigstens empirisch deutlich, dass überall große Erwartungen geäußert werden, die sich etwa niederschlagen in Schlagworten wie „next practice“ oder auch „die nächste Gesellschaft„. Soziologisch im Sinne eines Konzepts von „preadapitve advance“ kündigen sich viele neue Lösungen an, die sich mit ihrer zwecklosen Ausbreitung langsam neue Probleme suchen. Entsprechend könnte man annehmen, dass auch diese Probleme genau wie ihre Lösungen gegenwärtig zur Welt kommen, wenn man auch noch nicht genau sagen kann, worin diese Probleme bestehen werden, da sich die Lösungen ihrer Selbstbeschreibung nach für andere, nämlich für überlieferte Problemlagen eignen sollten. Man denke dabei etwa an Wikileaks.

Wikileaks ist eigentlich nur eine Verschärfung von Methoden des investigativen Journalismus und insofern angepasst an die Problemlage von Nationalstaaten, die aus Gründen einer Schutzfunktion gegenüber ihren Bürger Geheimnisse zurück behalten. Durch die Auflösung der Dokumentform in digitale Daten können so gigantische Mengen an Informationen weltweit zugänglich gemacht werden, ohne dass die Staaten dagegen etwas machen könnten.
Zu erwähnen wäre auch Wikipedia, ein Projekt, das nach dem Verfahren einer Schwarmintelligenz Textsimulationen produziert und damit eingeübte Routinen der Exponierung von Expertenkompetenz unterläuft; ein Phänomen, das sich durch die Akzeptanz von Twitter bis in den Jorunalismus ausdehnt. Denn was spricht gegen die Überlegung, dass Twitter nichts anderes ist als ein noch entwicklungsbedürftiges kollaboratives Rechercheprojekt?

Und schließlich sind die Filesharer und Raubkopierer diejenigen, welche eine dämonische Unruhe in die Systeme pumpen. Und wen sollte es wundern, dass mit Raubkopieren und Plagiatoren auch ihr Gegenstück durch das Internet eine neue Art der Prominenz erhält. Gemeint sind hier die Plagiatsjäger, die gerade erst damit anfangen, das Internet als kollaborative Plattform zu nutzen, um ein theoretisch und methodisch unbedachtes Copy-and-Paste-Verfahren in die Schranken zu weisen. Auch die Plagiatsjäger arbeiten kollaborativ und geben vor, den „Raub der Seele“, so die ürsprüngliche Bedeutung des Wortes Plagiat, zu verfolgen, um wissenschaftliche Standards der Authentizität zu verteidigen; und dies ausgerechnet mit Mitteln, die keinerlei Authentizität mehr zulassen. Digitale Verfahren der Datenverarbeitung lassen keinen Spielraum für den Unterschied von Original und Kopie, nur aus diesem Grunde können die Plagiatsjäger über Internet zusammenarbeiten. Die Zusammenarbeit funktioniert, weil keine „schweren Waren“, Bücher, Aktenordner, Manuskripte transportiert werden müssen, wodurch auch die Überprüfung von Schriftzeichenkombinationen auf Identität und Abweichung enorm erleichtert wird.
Man sieht hier sehr gut, wie durch die Plagiatsjäger eine Lösung erarbeitet wird, die durch die Strukturen der Gutenberg-Galaxy entstanden sind, durch diese aber nicht gelöst werden konnten. Denn die Überprüfung von Plagiaten ist insbesondere dann, wenn Texte zusammencollagiert werden, nur mit sehr viel Aufwand an Kosten und Manpower möglich, da die Texte als Dokumente verstreut im Raum vorhanden sind, dieser Raum sektorial aufteilt ist und diese Sektoren wiederum für einander unzugänglich sind. Das Internet lässt solche Strukturunterschiede kollabieren. Bemerkenswert ist daran vor allen Dingen, dass damit ein weiterer „Raub der Seele“ gleichsam affirmativ legitimiert wird. Die faustische Seele im Spenglerschen Sinne wird durch die digitale Seele ihrer Stabilität beraubt, indem letztere vorgibt, eben diese Restbestände faustischer Gelehrsamkeit retten zu wollen.

In Sachen Plagiatsaffären dürfte allerdings erst der Anfang gefunden sein. Denn was spricht dagegen, alle Doktorarbeiten und nicht nur diejenigen, die von Politikern verfasst wurden und welche am meisten den Zorn auf sich ziehen, auf diese Weise zu überprüfen? Das Ausmaß der Plagiatsenthüllungen dürfte kaum zu überschätzen sein, wenn man bedenkt, welche Intransparenz die Strukturen der Gutenberg-Galaxy entwickelt haben und welche ein einigermaßen sicheres Versteck für Plagiatoren war.
Der „Raub der Seele“ wird durch die Plagiatsjäger, ganz entgegen ihrer eigentlichen Absicht, ein zweites Mal vorgenommen. Und die Frage, wie sie damit zur Problementwicklung der „digitalen Seele“ beitragen werden, kann eigentlich noch gar nicht gestellt werden. Für ein „nächstes Problem“ ist es noch zu früh, weil die Lösung für das vorhergehende erst noch erarbeitet wird und darum Vorrang hat.