Helfen, retten, schützen – Über preadaptive advances des Internets
von Kusanowsky
„Frauen und Kinder zuerst!“ ruft man, wenn das Schiff untergeht. Aber mag es auch möglich sein, dass dieser Befehl ertönt, wenn nach langer Zeit des Darbens wieder frische Nahrung angeliefert wird? In beiden Fällen, im Fall des Untergangs genauso wie Fall des Aufgangs, müssen die Schwächsten besonders berücksichtigt werden. Daraus könnte man die Frage ableiten, mit welchem Fall man es zu tun hat, wenn dieser Befehl ertönt.
Im Sinne der Beobachtung der Kommunikation als Kommunikation eines ständigen Vexierspiels könnte man auf die Idee kommen, dass man es sowohl mit einer Notstands- wie mit einer Fortschrittssituation zu tun hat. Während man auf der einen Seite das „Retten-helfen-schützen“ als Anzeichen für ein Untergangsszenario nehmen kann, so dürfte das inflationäre Aufkommen eines solchen Anzeichens auf der anderen Seite vielleicht auch darauf schließen lassen, dass gerade dieses übertriebene „Retten-helfen-schützen“ Hoffnung spenden kann.
Wie auch immer; es bleibt der Wahl eines Beobachtungsstandpunkts überlassen, von welcher Seite aus man auf die andere schauen will.
Was zur Zeit in diesem Zusammenhang am meisten Not täte, wäre ein ständig aktualisierbares Webverzeichnis der gegenwärtigen Hilfs-, Schutz- und Rettungsmaßnahmen: Datenschutz, Leistungsschutz, Verbraucherschutz, Vertrauensschutz, Bankenrettung, Eurorettung, Klimarettung, Entwicklungshilfe, Griechenlandhilfe usw. Hübsch wäre, wenn man das ganze auch noch gliedern und zusätzlich mit Querverweisen verlinken würde. So würde ein Panorama entstehen, das als Chronik die Schwachstellen eines Umbauprozesses deutlich macht: pädiatrische Hilfsbedürftigkeit oder geriatrische Gebrechlichkeit?
Kann das sein? Banken und Unterhaltungsindustrie als Schwachstellen der Gesellschaft zu betrachten, denen zuerst unter die Arme gegriffen werden muss, weil die Stärkeren genauso gut etwas warten können bis sie dran sind?
Diese Frage scheint wohl deshalb etwas irritierend, weil sie das Problem auf Subjekte focussiert, von welchen gewöhnlich angenommen wird, sie seien die handlungsintendierenden sozialen Akteure, die mit ihren Maßnahmen erfolgreich oder erfolglos sind und welche entsprechend selbstverantwortlich für all das seien, was ihnen widerfährt, weshalb, wenn es um die Rettung derselben geht, die Empörung aufflammt. Ist die Verlagsbranche nicht selbst schuld an ihrer Misere, da sie die Entwicklung verschlafen hat? Die Gegenüberlegung lautet, dass gerade ihre zutage tretende Schutzbedürftigkeit deutlich zeigt, wie schwach sie vorher war, zum Beispiel auch zu schwach, um mit der Entwicklung Schritt halten zu können. So zeigt sich, dass die Internetpioniere, welche damals, aufgrund ihres Kapitlamangels, als Außenseiter in Erscheinung traten, tatsächlich nunmehr die Stärkeren sind. Aber das führt in die Irre einer bekannten sozialdarwinistischen Behauptung, derzuolge ein survival of the fittest mit dem Recht des Stärken übersetzt wird. Es sind nicht die Stärkeren, die sich durchsetzen. Vielmehr sind es „preadaptive advances„, also vorauseilende Anschlussfindungen an bereits zurückliegende Entwicklungen der Gesellschaftsstruktur, die schon Semantiken ausbilden, noch bevor sie ihre Mächtigkeit entfalten. Diese preadaptive advances sind „the fittest“, insofern sie sich durch die Evolution als solche herausstellen. Aber wenn sie sich als solche herausstellen, ist damit nichts darüber gesagt, dass es nur so und nicht anders hätte kommen können. Evolution ist, auch wenn kontingent, Schicksal, sie kann nur als Tautologie und als Paradoxie beobachtbar werden: Tautologisch sofern sich nur durchsetzt, was sich durchsetzen konnte, weshalb es sich deshalb durchgesetzt hat; und paradoxal, indem die Durchsetzungsfähigkeit nicht selbst durchsetzungsfähig war, andernfalls hätte man vorhersehen können, was nicht vorhersehbar war; wollte man dies allerdings behaupten, so könnte man nicht vorhersehen, was vorhersehbar ist, dass nämlich nichts vorhersehbar ist.
So kommt man zu der Beobachtung, dass es nicht Subjekte und ihre angeblichen Fähigkeiten sind, welche irgendetwas herbeiführen, unterlassen oder verschulden. Evolution kann niemand verantworten.
Für die virulenten Hilfs-, Rettungs- und Schutzmaßnahmen würde dann gelten, dass sie gleichsam evolutionär bedingte Prüfungssiutationen sind, durch welche die Frage entsteht, ob es mit den zu schützenden Subjekten noch weiter geht oder oder ob man auf sie verzichten könnte? Wie sollte man das wissen können, wenn man dies nicht ausprobiert? Gerade der Schutz des Urheberrechts, wobei es sich ja um ein altes und anhaltendes Problem handelt, zeigt diese Situation ganz deutlich: Wie geht’s weiter? Nur damit oder auch ohne?
Bild: Wikipedia
„preadaptive advance“. Die Idee besagt ja, dass die moderne Gesellschaft immer wieder Techniken und Fähigkeiten hervorbringt, für die noch gar kein Bedarf besteht. So wie ich deine Äußerungen an anderen Stellen verstehe, dürfte das z.B. für Facebook gelten. Mit Facebook wird der Spielraum getestet, den die Digitalisierung aller Daten eröffnet. Statt wie Literaten der Science-Fiction-Kultur von anderen Welten zu phantasieren, entdecken Marketing-Manager eine neue Welt, nämlich als Virtual Reality, als Welt vieler Möglichkeiten. Bei Facebook und Twitter kann man das ja genau erkennen. Diese sozialen Netzwerke eröffnen Kommunikations- und Darstellungsmöglichkeiten, von denen wir noch gar nicht absehen können, wie man sie sinnvoll nutzen kann. Das Problme hat ja Twitter: Es gibt dafür eigentlich kein Geschäftsmodell. Luhmann sagt ja, dass das in der Geschichte der Medien schon immer so war. Neue Medien entstehen nicht nur als Lösung von aktuellen Problemen der Gesellschaft, sondern auch als Antwort auf Fragen, die noch gar nicht gestellt wurden. Man müsste noch das Problem herausfinden, für das Facebook eine Lösung ist.
@jeremias – generell würd ich das so sehen. Interessant finde ich aber, dass die Chancen zur Ausarbeitung einer Weltkontigenz nicht mehr allein in das Fachgebiet von Künstlern oder Literaten fallen. Luhmann hatte das ja der Kunst als Funktion zugeordnet. Tatsächlich scheint mir aber, dass Marketing und Werbung inzwischen dazu eher in der Lage sind, Weltkontingenz zu produzieren, und dies wohl nicht, obwohl dazu kapitalintensive Investionen erfoderlich sind – was man ja zunächst annehmen könnte, da Investionen immer renditefähig sein müssen – sondern gerade weil kapitalintensive Investionen möglich sind, die mehr auswerfen als durch die Businesspläne vorgesehen wurde. Besser: die nicht mehr, sondern etwas anderes, aber besseres auswerfen als das, was zunächst in Aussicht gestellt wurde. Eine andere Frage ist, dass so etwas nicht planbar und schon gar nicht messbar ist. Das würde insbesondere für diese Second Life-Geschichte gelten. Ich glaube fast, dass die wirklich interessanten Ergebnisse dieses Unternehmens nicht in dem liegen, was sich in einer return-on-investment-Projektion dokumentieren läßt. Man könnte das dann einen erfolgreichen Verlust nennen, oder verlustreichen Erfolg. Jedenfalls scheinen mir diese Künstlerdiskussionen, die sich um Kunst vs. Kommerz drehen, inzwischen höchst rückständig zu sein und den Weg allen Fleiches zu gehen. Aber auch hier gilt, dass niemand bemerken wird, wenn diese Diskussionen aufhören werden, weil es niemanden gibt, der sie vermissen würde, denn sonst würde diese Diskussionen ja weiter gehen. Aber das bringt mich auf die Überlegung, warum die Kunst überhaupt ein Kommerz-Problem entwickeln konnte. Ob das daran liegen mag, dass der Kapitalzwang, bzw. die Notwendigkeit des Zinsertrags ja auch immer Kontingenz abschneidet, worauf Kunst notwendig allergisch reagieren muss. Und mit welcher Art Gesellschaft bekäme man es bald zu tun, wenn sich dieser Zusammenhang umkehrt, wenn also der Zinsertrag als Voraussetzung zur Erweiterung von Kontingenzen und nicht zur Abschneidung genutzt werden kann?
Interessant vielleicht in diesem Zusammenhang:
„Sobald ich ein System herausschneide, von dem ich ahne, dass das Ergebnis einer Operation auf die nächste Operation selbst zurückwirkt, in welcher Form auch immer, ist dieses System schon nicht mehr voraussagbar.“ Dieses Diktum von Heinz von Foerster weiterführend, scheint der Systembegriff nicht nur eine neue Denkweise, sondern auch neue Wahrnehmungsweisen und neue Empfindungsweisen nahezulegen. Vielleicht darf man vermuten, dass er in diesen letzteren Dimensionen sowohl seinen Theoretikern als auch seinen Kritikern die größten Schwierigkeiten bereitet. Denn konzeptionell arbeiten wir mit dem Systembegriff an einem „preadaptive advance“, das unseren Wahrnehmungen und Empfindungen vorauseilt. Was wir daher gegenwärtig vor allem wahrnehmen und empfinden, ist, dass wir keine Wahrnehmungen und Empfindungen haben, die der konzeptionellen Dimension des Begriffs entsprechen. In dieser Hinsicht ist unser Nervensystem so veraltet, wie es unsere Institutionen sind.
aus: Dirk Baecker: Wozu Systeme? Berlin 2002.
Ist Systemtheorie doch nur eine Theorie des Unbewussten? Ist Psychoanalyse ein preadaptive advance der Systemtheorie? Was würde Platon dazu sagen?
Ja, danke für diesen Beitrag. Ich hatte mich auch schon manchmal gefragt, ob man die Systemtheorie im ganzen als Versuch einer preadapitve advance verstehen kann, also als eine Konstruktion, deren Kontingenz und damit ihre theoretische Validität dadurch entsteht, dass sie in die Prozesse eingeschleust wird, durch welche sie beobachtet werden kann, was zu dem Ergebnis führt, dass sie ganz offensichtlich relevant ist und dies schon war, noch bevor sie es war. Das würde bedeuten, dass ihre ganzen, aufeinander bezugnehmenden Theorieteile sich so entwickelt haben wie dies die Rezeption der Theorie erforderte. Eigentlich müsste das dazu führen, dass Systemtheoretiker nicht viel zu sagen haben. Dass dieser Eindruck aber vermieden werden kann, hängt nicht zuerst an der Komplexität der Theorie, sondern andersherum: die Komplexität entsteht mit der Vermeidbarkeit eines gleichsam postmodernen Beliebigkeitseindrucks, der besagen könnte, dass alle Theoriekomplexität auf sich selbst reduzierbar ist. Und der beste Vermeidungstrick scheint mir ganz traditionell und klassisch zu sein: einfach durch Widerspruch und folglicher Selbstimmunisierung ohne weitere Mühe und damit eine Ausdifferenzierung, die sich nicht nur auf das bezieht, was mit Systemtheorie beobachtbar wird, sondern auch eine Ausdifferenzierung ihres blinden Flecks. Ich geb zu, dass das irgendwie seltsam ist, weiß aber nicht, wie man’s sonst beschreiben könnte.
[…] Gesamtsituation für Weltrettungsversuche scheint gerade sehr günstig zu sein, insbesondere wenn man an die Wettervorhersage für die […]
[…] oder auch „die nächste Gesellschaft„. Soziologisch im Sinne eines Konzepts von „preadapitve advance“ kündigen sich viele neue Lösungen an, die sich mit ihrer zwecklosen Ausbreitung langsam […]
[…] als gleichsam notwendige Immunreaktion betrachtet, mit der versucht wird, zu retten, was noch zu retten ist, als ob es da etwas gäbe, z.B. die Welt und was sonst noch der Fall ist, das man retten […]